Dienstag, den 5. Juli 2005. Hamburg.

9.12 Uhr:
[Bei – Nescafé. Viel davon genommen und mit fast ebenso viel Zucker in der Tasse verrührt,sowie mit reichlich Milch dazu, bekommt das den Geschmack einer Erinnerung, deren Geruch sie mir zwar zugleich verdeutlicht, aber doch auch wieder entzieht, bevor sie bewußt werden kann. Es kann mit meiner Kindheit zu tun haben. Wann wurde Nescafé erfunden? Recherchieren.- Einer der seltenen Fälle übrigens, in welchem der Name der Marke sich vor den Gegenstand selbst geschoben hat, wie bei “Fön”, wie bei “Tempo”.]

Mir kommt gerade die Idee, eine Zeit lang n u r das Tagebuch zu führen und gar keine anderen Einträge zu verfassen, aber das führt in die >>>>>>>>>>>>>>>>. Und davon wollte ich eigentlich auch gar nicht erzählen. Sondern von den Träumen, die ich hatte, und auch nicht von i h n e n, sondern von ihrer Art:
Ich s a n k in den Schlaf, es mag drei oder vier Uhr morgens gewesen sein, s a n k in den Schlaf, Annika war noch gänzlich wach, mich aber streckte es wie ein Hin, das zugleich wie ein Ausstrecken war, von dem ich am Tag in ARGO geschrieben hatte, als wäre man ein überaus schweres Gewässer, das sich, weil das Land so sehr flach ist, nach allen Seiten dehnt. Und ich fing, während ich noch sprach, diese Träume an, deren Eigentümlichkeit darin bestand, daß es ausgesprochen viele waren, als öffnete ich Schublade um Schublade einer alten Kommode, und aus jeder Lade drang nun ein Traum heraus, der seinerseits weitere Träume in den Schlaf spülte. Dabei träumte ich diese Träume gleichzeitig, es waren völlig verschiedene Geschehen. Tatsächlich b e m e r k t e ich, daß das so war, weshalb ich mich – oder das träumende Etwas in mir – nicht so sehr auf die Inhalte, sondern auf die eigentümliche Abfolge konzentrierte. Ich weiß, daß ich einmal erwachte und von so tief unten mit Annika sprach und ihr von dieser Traumkonstitution erzählte und daß Annika lachte. “Ich träume parallel”, sagte ich, “aber nicht nur das, ich träume nicht horizontal, nicht, wie eine Geschichte gebaut ist, die den Gesetzen der Chronologie folgt, sondern auch v e r t i k a l.” Sozusagen träumte ich die Ursachen jedes dieser Träume gleich mit. Das bleibt heute morgen als starke Erinnerung in mir haften, während Annika drüben noch schläft und ich mich an den hiesigen Küchentisch gesetzt habe, um zu arbeiten.

9.34 Uhr:
[Dank an google und Wikipedia: “Die Erfindung und Vermarktung des löslichen Kaffees im Jahr 1938 brachte dem Unternehmen grosse Gewinne. 1947 folgte die Fusion mit der Maggi AG und der Namenswechsel zu Nestlé Alimentana AG.” Es kann also so s e i n, denn M a g g i zumindest stand bei uns früher i m m e r auf dem Tisch (in den Fünfziger, ganz sicher in den Sechziger Jahren), auch Nescafé wird nicht gefehlt haben, vor allem im Haushalt meiner Mutter, die seinerzeit vorübergehend eine bayerische Gastwirtschaft betrieb und also früh hochmußte. Da wird der sehr spezielle Geruch des gefriergetrockneten Kaffees bereits um sechs Uhr morgens, stell ich mir vor, durch das freistehende Haus am Chiemsee gezogen sein, – ein Haus, von dem ich im übrigen gar nichts mehr weiß und das allmählich anfängt, Geheimnisse zu bergen. Kindergeheimnisse, deren Essenz darin besteht, daß sie mythische Interpretationen sind.]

10.49 Uhr:

bvl greift mich wieder in Den Dschungeln an, diesmal mit unverbrämtem mystischem Zeugs und der Apokalypse. Es ist mir schon zu Börsenzeiten aufgefallen, daß reiche Geschäftsleute eine Neigung zum Aberglauben haben; nicht wenige meiner Kollegen hielten sich damals mehr an ihre Tarot-Karten als an die Analytiker des Unternehmens. Übrigens waren ihre Erfolge im Markt nicht kleiner als die der strengen “Positivisten”. Ich war und bin überzeugt, man hätte eine ähnliche production erzielt, hätte man in Hundekot nach Zeichen gesucht und sie zu deuten verstanden.

21.17 Uhr:
Zu meiner Traurigkeit gesellt sich nun auch ein Eintrag Source’s, die sich damit öffentlich hinter bvl stellt und sich dadurch ‘outet’. Wie schade, daß diese unschöne Angelegenheit nicht einfach ruhen gelassen und vergessen wird. Wie tragisch fast. Zumal alle daran Beteiligten sich nicht ein einziges Mal wirklich begegnet sind, sondern bis auf ein paar (schöne, ausgedehnte, tiefe) Telefonate zwischen Source und mir hat es nie eine Begegnung gegeben, von der hätte gesagt werden können, es habe E r d e und also hätten die Sinne darin eine Rolle gespielt. Alles war immer nur (offenbar, wie sich herausstellt) fehlgeleiteter Geist.

21.37 Uhr.
Aber ich sitze nun hier, soll einen Geburtstag mitfeiern und kann nicht, weil mir die Traurigkeit so auf den Magen schlägt. Dabei hatte ich so darum gebeten, diesen Kontakt und seine unselige Geschichte endlich zu beenden. Jetzt trägt er sich mit all seinen anfänglichen Hoffnungen und schließlichen Widerlichkeiten so sehr in Die Dschungel hinein, daß ich an sich das ganze Zeug löschen müßte. Aber einerseits widerstrebt mir das, andererseits weiß ich zudem, daß man mir solche Löschungen nur allzu gern als Zensur auslegen möchte – mich also zu etwas nötigen, das mir hintennach vorgeworfen werden soll – – eine Intrige nennt man so etwas im allgemeinen; letztlich ist es nichts als ein ziemlich ekelhafter Trick, recht zu behalten. Man könnte das “Mühle spielen mit Gefühlen” nennen, bei der ein masochistischer Gegner sich in hämischer Weise auf eine Zwickmühle freut, die ihn doch selber schmerzt; und seine Handlanger, zumal sie “vorgeprescht” sind, begreifen es nicht.

Vielleicht würde s o etwas helfen: “Ja, ich bin ein Charakterschwein. Das war Wagner auch, das war ebenfalls Picasso. Ihrem Werk nahm das n i c h t s.” Ich fürchte aber, das langt diesen esoterischen Gläubigern nicht. Sie möchten, ganz offenbar, v e r n i c h t e n. Der Fluch, den mir Source über den yahoo-Messenger schickte, spricht Bände. Sie besaß sogar die Göttin-der-Nacht-haftigkeit, meinen Jungen indirekt darin einzubeziehen. Allerspätestens da gab es von meiner Seite keinerlei Verständnis mehr. Ich bin jetzt sehr froh darum, diese Beiträge archiviert zu haben.

Nachtrag.
Nachts noch mit der Gruppe über die Reeperbahn geschlendert, aber A. und ich setzten uns aus dem CLOCHARD schnell wieder ab, jeder die Flasche Astra in der Hand, bummelnd. Schon im Eingang und die Treppen zu der versifften Kneipe hinauf hatte es nach den scharfen Desinfektionsbonbons gerochen, die bisweilen und hier ganz gewiß in den Pissoirs liegen. Wir schlenderten, sahen noch in ein Szene-Magazin hinein – “Wir schließen gleich – und schon gar nicht mit den Flaschen.” “Och”, machte A., “ich weiß doch, aber das sind noch drei Minuten.” “Aber nicht mit den Flaschen.” Er legte zwei weiße Untersetzer auf den Tresen rechts, wir stellten unsere Flaschen darauf und schauten über die erotischen Utensilien und Garderoben, hinten standen die DVDs. “Nö”, sagte ich, “langweilig, nicht DVDs.” Also noch das eine Stockwerk hinunter, Kleidung, Peitschchen, halt was ein SMler so braucht oder zu brauchen jedenfalls m e i n t. Wir kehrten um, nahmen unsere Flaschen, lächelten, “Danke, siehst du, wir hätten noch 30 Sekunden.” “Kommt morgen wieder.” Und in die Nacht. Und zu A. Und vor fünf Uhr morgens schliefen wir nicht. Es war schon ganz hell, als ich einsank. Von “Arbeitsfortschritt” zu schreiben, wäre heute vermessen. Eine halbe Stunde ARGO war es dann aber d o c h – und gab mir das CLOCHARD als einen weiteren Spielraum für den Roman.



Arbeitsfortschritt:
ARGO, bis TS roh 237
; eine halbe Seite; und einen Webfehler im ersten Teil entdeckt.
DIE DSCHUNGEL, Blogg-Theorie ff und längere Erläuterung über die theoretische Konstruktion von ANDERSWELT.

7 thoughts on “Dienstag, den 5. Juli 2005. Hamburg.

  1. bei “Nescafe”, bei “Fön”, wie bei “Tempo” … oder auch “Nivea”. Diese Kraft* des Metonymischen (wie bei einem besonders gelungenem “Branding”), die einer Gattung von Gegenständen einen Namen überstülpt und diesen den (Kaffee-)Geruch einer bestimmten Zeit gibt. Vielleicht ist ja das Geheimnis des Kindes, dass es mit dem Produkt (am Rande des Produkts) gebrandet wurde – das nur zum Begriff des Mythischen, wenn gespeicherte Realität (überzeitlich) eine mögliche Fixierung von etwas Ewigem sein soll. Dass also eine Interpretation (eine Fixierung) des Mythischen ein Branding wäre, umgekehrt eine Mythifizierung des Konkreten eine Heilung. Kafkas Texte kommen gänzlich ohne irgendwelche brandings aus. Sie werden deshalb auch immer mythisch rezipiert und wirken kathartisch. Was ich damit sagen will: Texte werden sicher nach zwei oder drei Generationen unlesbar (die Kraft* verbraucht), wenn zu sehr mit Realien gespielt wird … (das: nur eine persönliche Präferenz/Ansicht – und womit wobei ich manchmal in der Anderswelt / Buenos Aires Mühe habe stutzig werde)

    1. Die Realien werden ihrerseits mythisch. Eben weil sie in ANDERSWELT so unlösbar mit dem Fiktionalen verbunden werden – genau das ist die Bewegungsrichtung dieser Poetik. Eines der g a n z-großen Beispiele, wo so etwas schon einmal (wenn auch völlig anders) gelang, ist Nabokovs ADA OR ADOR.

      Das “Problem” hier im Netz besteht darin, daß die so sehr segmenthaften Ausschnitte, die in Die Dschungel eingestellt werden, den gesamten Zusammenhang natürlich nicht anders als in Form einer Ahnung anspielen können; das Gesaamtsystem schließt sich logischerweise nicht und der Akzent wird ganz besonders aufs Aktuelle gelegt, anders als später im Buch. Sie können das an THETIS ganz gut überprüfen, dem nun wirklich niemand (dummerweise) den Vorwurf einer zu großen Aktualitätsnähe gemacht hat; im Gegenteil haben fast alle Kritiken auf Science Fiction abgestellt, womit das Buch zwar ein wenig, aber zum allergeringsten Tel zu tun hat. Tatsächlich sind insbesondere viele der in dem Roman geschilderten Greuel-Szenen am jugoslawischen Bürgerkrieg abgeschrieben worden, zeitgleich mit dem THETIS nämlich verfaßt worden ist.

    2. Meine Schande. THETIS habe ich noch nicht gelesen (sollte also schweigen). Wäre THETIS damit (obwohl Teil 1 IN der Trilogie & damit Basis einer Geschichte) als Gegenprojekt zu Buenos Aires zu lesen: Wie (Achtung, ganz grosser Stiefel!) Faust II zu Faust I und der anschliessenden Präferenz der Allegorie (also im weiteren Sinne der Gattungen) vor dem Symbol (dem Einzelnen/Konkreten) seitens G.? Eben nur umgekehrt?

    3. Also. Zur Poetologie. Dies ist einer der wenigen Fälle, in denen ich meine, eine Antwort meinen Interpreten überlassen zu müssen, und zwar nicht nur solchen, die der kybernetischen ANDERSWELT-Ästhetik folgen (etwa Ralf Schnell, Universität Siegen) oder sie kritisch abklopfen und gegen sie den WOLPERTINGER favorisieren (Wilhelm Kühlmann, Universität Heidelberg), sondern auch denen, die (wie etwa ‘mein’ KLG-Biograf Stefan Scherer, Universität Karlsruhe) meine Poetologie insgesamt sehr problematisch finden. Sie alle haben gute Gründe, jeweils das ihre zu meinen und zu denken, und vielleicht stellt sich so etwas wie Wahrheit in ihrem Chor her, ich bin wirklich nicht derjenige, darüber zu befinden.
      Andererseits, da Sie auf Goethe kommen, ist die Achilleis-Spur nicht ganz zu übersehen, die ihrerseits (schlußendlich gescheiterte) Homer-Spur war. Hierauf gibt es im Netzwerk der ANDERSWELT-Bücher (in das der WOLPERTINGER von 1993 ganz ebenso gehört wie DIE VERWIRRUNG DES GEMÜTS von 1983) zahllose Verweise; in Den Dschungeln werden sie bisweilen reflektiert. Den Arbeitsbeginn der ANDERSWELT flankiert allerdings die (lockere) Bekanntschaft mit Vilém Flusser, ein kleiner Briefwechsel mit ihm und sein für mich leitmotischer Satz, am Anfang jeder tatsächlich neuen Entwicklung stehe ein Regreß. Dies mag eine Primitivierung der Kultur wie im Urchristentum gegenüber der “dekadenten” römischen Zivilisation oder insgesamt eine ‘tabula rasa’ wie bei Aussterben der Dinosaurier sein: Immer wird ein höchst komplexes Gebilde – ein Netzwerk also – zerschlagen und an seine Stelle tritt ein neuer, vergleichsweise armer Anfang. Flusser diagnostizierte das für den Beginn einer (Kommunikations-)Ära technischer Bilder gegenüber der hochkomplexen Schriftkultur. Ich bin darauf an anderer Stelle in Den Dschungeln schon explizit eingegangen. Jedenfalls wurde dieses Modell – a l s Modell – wirkkräftig mit THETIS, worin ja gleich zu Anfang über die Welt die sog. Große Geologische Revision hereinbricht, aus deren Trümmern dann ‘ die neue’ Welt wächst. Um die Dynamik, die mir vor Augen steht, auch in den Titeln eine Richtung zu geben, legte ich von Anfang an die Grundstruktur der drei Romane fest: nämlich “Fantastischer Roman” (THETIS), “Kybernetischer Roman” (BUENOS AIRES) sowie “Epischer Roman” (ARGO); also: Gegenwart (Myhisierung des Alltags, ein bißchen im bricolage-Sinn Levi-Strauss’), Zukunft als v o r g e t r i e be n e Gegenwart (Kybernetisierung von Gesellschaften, dadurch Auflösung fixierter – auch moralisch-fixierter – Strukturen, worin sich sehr wohl so etwas wie Dekadenz erblicken läßt) und schließlich der Zusammenbruch in die ‘alte’ mythische Erkenntnisform, also der Regreß. Insofern, um Ihre Frage d i r e k t anzugehen, stellt BUENOS AIRES so etwas wie ein Zwischenstadium dar, auch ein Zwischens p i e l, während ARGO ganz direkt die in THETIS offengelassenen Stränge wieder aufnimmt und sie mit den Erkenntnissen, die aus BUENOS AIRES gewonnen wurden, weitererzählt. Wohlgemerkt handelt es sich dabei um ein narratives, nicht etwa philosofisches Gebilde. Deshalb ist ganz unbedingt an der Erzählung festzuhalten, eine Bemerkung, die jetzt auf <<<< lotmanns sowohl in Den Dschungeln wie bei ihm selbst zu findende Fragen, Anregungen, Kritikpunkte verweist. Meine ANDERSWELT-Arbeit, insofern, ist eine konservative. Welche Rolle hierbei das vieldiskutierte Verhältnis von signifiant und signifié spielen mag, hat mein eigenes – selbstinterpretatives – Interesse bislang nicht gefunden. Vielleicht sollten aber Leser tatsächlich die Spanne (und Spannung) im Auge haben, die sich zwischen ANDERSWELT und ihrem poetologischen Entgegen, etwa bei Rainald Goetz, aufgestrafft hat. Aber auch das ist die Sache meiner und seiner (oder anderer, etwa Pynchon’s) Interpreten und nicht die meine.

      [Selbstverständlich gibt es, weltliterarisch und damit inter-kulturell betrachtet, z a h l l o s e Haken, an die dieses bebende Netz festgemacht ist, und selbstverständlich sind es beileibe nicht nur solche der Literatur.]

    4. Wow. Jetzt muss ich einen Moment (einen Monat?) darüber nachdenken. Wie dem auch sei: ich freu mich schon auf >>> dieses Projekt und bin gespannt (auch natürlich im eigenen Interesse), wie Sie es anstellen werden. Natürlich hoffe ich auch inständig, dass Argo seinen Verlag findet – schon um o.g. zu überprüfen. Sie könnten nun natürlich sagen, es sei ja (teilweise) schon vorhanden, zugänglich, aber: dann doch wieder meine Vorliebe fürs Gedruckte, Haptische etc. (also warte ich, obwohl ich mit Dranmor auch eher > etwas Grossflächiges entwerfe, dessen Lektüre online für manche eine Zumutung bedeutet … aber das ist vielleicht etwas anderes). Viel Erfolg. Auf jeden Fall.

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