Donnerstag, den 4. August 2005.

12.51 Uhr:
Heftiger Angstanfall in der Analye. Daß ich Begegnungen mit *** zulasse, schon wegen der Einschulung meines Jungen am Samstag nächster Woche, verflüssigt zwar die Starre, aber die Vorstellung, dann die Familie spielen zu müssen, nur zu spielen, die ich verlor, ließ mich richtiggehend elend werden. Und sofort schossen alle anderen Bedrohungen m i t hoch: Die Finanzmisere (ich habe keinen der Zahlungsbefehlsandrohungen und Mahnungen seit meiner Rückkehr auch nur angefaßt); daß ich seit anderthalb Jahren jeden Abend mindestens eine Flasche Wein trinke, was alarmierend ist; der gegenwärtige erneute Rauchexzess…ich schwieg fast nur auf dieser Couch, und vor meinen Augen rasten Tausende Bilder, Filmausschnitte, sogar einmal ein Gegenstand, den ich noch nie gesehen habe und für den ich auch keinen Namen weiß: aber er war absolut konkret und hatte etwas von einer bronzenen Hand, deren Außenhaut zu einem Stuhl geschmiedet war.
Jetzt hat sich der Zustand wieder etwas konsolidiert.

Schön dagegen der Mailwechsel mit EvL. Die haben in Buenos Aires gerade fast das gleiche Wetter wie wir in Berlin. Sowas verbindet. Gemeinsame Wolken, sozusagen, durch die bisweilen (hier öfter) die Sonne bricht. “Bumsen Sie doch, was das Zeug hält”, schreibt sie, “was uns verbindet, kriegen Sie damit nicht weg.”

15.20 Uhr:
Lästiger Kleinkram. Neuer Mantel aufs Rad; eigentlich übersteigt schon das mal wieder mein Salär. Briefzeugs und noch mal Mailwechsel mit Krätzer wegen des horen-Heftes. Und um sieben wird der Junge von der Mama gebracht; also die nächste Begegnung. Ich hab sie selbst initiiert. Bangen. Aber was angefangen, dann auch durchziehen. Dafür keinen Pups an Neuem geschrieben, im Inneren die eingeschlafenen Projekte durchgegangen, die in Den Dschungeln begonnen wurden:

1) Joachim Zilts’ Verirrungen (Überarbeitung). Erzählung.
2) Judith in London. Erzählung.
3) Die schöne Elisabeth Schneider. Erzählung.
4) Die Korrumpel. Polemiken.
5) Die Liebe in den Zeiten des Internets. Roman.
6) Die dunkle Seite des Mondes. Roman.

(Vielleicht hab ich noch was übersehen.)

Was dafür läuft:
1) Kleine Theorie des Literarischen Bloggens. Theorie.
2) Paralipomena. Theorie.
3) sowieso: die Notate. Theorie.

Was als nächstes (wieder) angegangen werden muß:
1) Argo. Anderswelt. Roman.
2) Das Wunder von San Michele. Hörstück.
3) Liebesräume. Oper mit Robert HP Platz.
Mit ARGO beschäftige ich mich eh unentwegt, auch wenn grad mal keine Zeile erzählender Text entsteht.

Die Mahnungen liegen hier immer noch unangerührt herum. Als könnt ich mir dran die Finger vergiften. Zum ersten Mal, seit ich hier bin, also seit zehn Jahren, die Fantasie gehabt, die Arbeitswohnung zu verlassen. In einem Halbtraum, als ich zum Fahrradhändler ging, die neue Wohnung gesehen, die ich zusammen mit *** bezöge: Arbeitszimmer, Wohnzimmer, Schlafzimmer, Kinderzimmer, Küche, Bad und Flur. So richtig herrlich ausgeruht-bürgerlich, thomasmann’sch geradezu: Zwischen 6 und 14 Uhr herrscht Dichter-Ruhe. Absurd. Zumal die Mails mit Evl aber auch s o w a s zwischen B.A. und hier hin- und hergehen. Ständig guckt man – beide Seiten -, ob neue Post da ist. Ich hab ihr vorgeschlagen, in Argentinien zu verbreiten, es gebe ein z w e i t e s B.A. in Europa. Sie aber meint, das glaube ihr keiner, selbst dann nicht, wenn sie auf Borges verweise. Die Wahrheit aber ist: Sie hat dazu keine Lust. Zumindest ein Fiktionärsschild könnte sie sich an die Tür nageln lassen. Mit d e m Vorschlag komm ich dann später; sie ist jetzt weg, um Mate zu kaufen. Wahrscheinlich liest sie’s e h erst hier, dann muß ich nix mehr sagen. Verdatternd allerdings war, daß sie von einem Hochzeitsantrag an Rainer Saturnanski erzählte, dem Bruder W.G.Sebalds. Beiden, auch Sebald, sei da die erigierte Pfeife gesunken. Was gut ist, denn so muß ich mir nicht mehr vorstellen, wie sie – nein, n i c h t Sebald jetzt – die ehelichen Pflichten vollziehen, die interessanterweise, jedenfalls allgemein gespochen, v o r der Ehe Rechte sind: nicht qua jure sondern qua Lust. À propos, mir fällt ein, ich muß noch Michaela begegnen; allein, um nicht meine Leser zu enttäuschen. Und das Diktum der Skandal-Ästhetik verlangt das; schließlich hat man einen Ruf zu verlieren.

15.53 Uhr:
Hab mal eben bei http://Opodo.de geguckt: Flug nach B.A. ab Berlin im September 860,– Euro. Krieg ich nicht hin. Auch wenn ich EvL – unterdessen haben wir das desinfizierend in “Everl” versächlicht – angedroht habe, eines Morgens, wenn sie w i e d e r, anstatt zu mailen, Mate kaufen geht, säße ich da am Rinnstein und grinste sie an. “HastmaaaneMack”-mäßig, damit sie weiß, ich hab keine Unterkunft und muß sonst verhungern.

19.35 Uhr:
[Tschaikowski, 6. Sinfonie im Dänen-Netz-Radio.]

Bleiherz. Ich hab sie hochgebeten. Sie sah zum ersten Mal, wie der Junge seit drei Jahren hier lebt in der Väter-WG. Beide sind wir hoch beherrscht, leise; der Junge, ganz aufgeregt, hüpft um uns herum, zeigt ihr dieses, zeigt ihr jenes. Ihre Hände sind mir fremd geworden, sie sehen nach sehr viel einfacher Arbeit aus, sehr kräftig, kurze Nägel. Die Haut des Gesichtes etwas unruhig, nicht klar. Aber dieser hauchdünne Samtflaum darüber. Bis über die Wangen zieht er sich. Inniges Tier. “Magst du einen Tee?” “Ich kann nicht. Ich würde gern.” Steht im Kinderzimmer, wie zögernd, rehhaft: weghuschen wollen, n i c h t weghuschen wollen. “Aber meine Freundin… Ich…” Sie erklärt. Hat es schon im Treppenhaus gesagt, daß sie verabredet sei. Bleibt nun aber immer wieder stehen in dem Zimmer und schaut. Schaut aber die zahllosen Fotografien der Jungs, die Katanga und ich überall in der Wohnung an die Wände und an die Türen gepinnt haben, nicht direkt an, beschaut sie indirekt aber d o c h, das ist ein ganz stiller innerer Kampf, den wir an uns beiden selbst bemerken. Nur die Fotografien an der Badezimmertür besieht sie genau. Dann ist sie weg. Bleiherz.

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