Donnerstag, der 1. September 2005.

6.55 Uhr:
Grad erst auf. Kann mich nicht einmal mehr daran erinnern, daß und ob um halb fünf der Wecker geklingelt hat. Ärgerlich. Ich hab gestern nacht den Fehler gemacht, dann d o c h noch am Schreibtisch Wein zu trinken; hätte ich bleibenlassen sollen. Der Vorwurf, von dem ich gestern nacht noch schrieb und auf den ich so scharf reagierte, kann mich offenbar tiefer verletzen, als ihm zugestanden werden sollte. So ganz ist meine Trennung von diesem Literaturbetrieb offensichtlich doch noch nicht in meinem Inneren vollzogen. Dabei hatte mein Freund R. gestern abend so recht: „Im Angesicht des Todes wird alles unwichtig.“ Aber er hatte eben auch rechtmit seinem Nachsatz: „Aber so kann man nicht leben.“ Das hallt jetzt in meinem leise brummenden Schädel sehr nach.
Ran an ARGO. Da sitzen zwei im SANGUE, die haben w i r k l i c h e Not.

7.54 Uhr:
Ich habe EvL verletzt, durch eine Unbedachtsamkeit. Sie nimmt die Entschuldigung nicht an. „Ich lasse nur Unbedenkliches herein“, schreibt sie. „Jetzt sind Sie bedenklich.“ Und meine Erklärung macht alles offenbar nur schlimmer. Sitze hier, die Tränen stehen mir in den Augen, ich stochere an ARGO herum, rauche in suizidalem Ausmaß, weiß nicht weiter. Ich würde gern mit ihr sprechen, aber habe keine Telefonnummer, weiß nicht mal, wo in B.A. sie genau lebt, sie würde wahrscheinlich auch nicht an den Hörer gehen. Es würde klingeln und klingeln und immer weiterklingeln, und irgendwann gäbe ich es auf. Ich fühle mich abgeschafft, fallengelassen als etwas, das Gift in sich hat, das man meiden muß. Mit dieser Art Hilflosigkeit bin ich in meinem Leben noch n i e klargekommen.

10 Uhr:
Der Vorwurf ist jetzt heraus: „Sie nehmen sich so schrecklich wichtig. Das macht mich sprachlos. Sie können nicht unterscheiden zwischen privat und öffentlich. Sie wollen anderen erklären, was intensiv ist und was verletzend und wie mißverstanden Sie und ihr Werk sind.“ Ich habe darauf reagiert und werde meine Antwort in Die Dschungel stellen, allerdings um das Persönliche gekürzt, um EvL’s eingeklagtes Privates nicht zu verletzen. Deshalb wird es eine Art ‚Positionspapier’. Für sowas, unter anderem, sind Die Dschungel auch gedacht. Davon ist aber eben m e i n Privates n i c h t zu trennen: daß ich verletzt bin, daß mir das wehtut. Das gestehe ich öffentlich ein, warum denn auch nicht? Es wird sowieso seinen Niederschlag in einem Text finden. Unsere Handlungen, auch unser Denken, werden unter vielem anderen auch von so etwas bestimmt. Weshalb darf das nicht zugegeben werden? Und sowieso, niemand muß es lesen. Schlagen Sie dieses Buch einfach zu, verlassen Sie Die Dschungel doch einfach, wenn sie Ihnen nicht mehr gefallen oder Sie stören. Aber ich lasse mir weder von Ihnen noch von EvL den Mund verbieten. Und schon gar nicht, weil ich deshalb Gefahr laufe, jemanden mir Wichtiges zu verlieren. Ich verhalte mich auch nicht zur Wohlfahrt meiner Gefühle korrupt. Wenn Gradlinigkeit bedeutet, daß diese verletzt werden k ö n n e n, dann w e r d e n sie halt verletzt. Dann hört die Nähe zu EvL eben auf. Es waren wenige, aber sehr schöne Wochen. Ich hatte sogar schon nachgedacht, ob ich irgendwie einen Funkauftrag bekäme, ein Hörstück über Buenos Aires zu schreiben. Habe nach Flügen geguckt. Man macht sich ganz schön lächerlich. Doch auch das gehört in die sich fortschreibende Untersuchung, die Die Dschungel eben a u c h sind, mit hinein. Also werde ich auch das nicht zensieren.

Jetzt habe ich nicht eine vernünftige Zeile an ARGO geschrieben. Mich nur mit EvL’s Vorwürfen rumgeschlagen. Das wird mal wieder ein Scheißtag. Aber ich bin nicht – und will das nicht sein – zu meinen Gefühlen distanziert. Ich will nicht uneigentlich werden!

[ Musik zu hören gegen die Traurigkeit, geht derzeit ebenfalls nicht. Irgendwas stimmt an der Anlage seit heute morgen nicht. Ich habe nicht mal L u s t auf Musik. Und lasse meine kleine Musikfeuilleton-Rubrik deshalb fallen heute. Tut mir leid. Sehr professionell ist das nicht, ich weiß. Eb wird es mir nachsehn, glaub ich. Sie hat genug Empathie.]

12.19 Uhr:
Die Analyse tat diesmal gut. Meine Rigorosität zugleich gemildert wie durchgehalten. Sie ist ein Fundament. Aber ich muß lernen, sie gegenüber anderen zu dosieren, glaub ich. Außerdem muß ich, das habe ich noch nie recht gekonnt, abzuwarten lernen, Sachverhalte, auch unangenehme, erst einmal einfach stehenzulassen. Damit klarzukommen, daß etwas eben n i cht klar ist. Und nicht versuchen, sofortige Klarheit möglichst sofort zu erstreiten. Das fällt mir unendlich schwer. Vielleicht habe ich deshalb die Unübersichtlichkeit und das Komplexe in meinen Romanen so sehr ins Zentrum gerückt: Ich stelle das zwar her, aber indem ich es tue, habe ich schließlich immer mehr und mehr Stränge vor A u g e n, überschaue es also und schaffe es dadurch (für mich) eigentlich ab. Die multi-tasking-Produktionsweise, derer ich mich während des Schreibens und auch sonst bediene, zielt in dieselbe Richtung, meine Faszination gegenüber Hofstaedters „Gödel, Escher, Bach“ ebenfalls. Gewissermaßen begebe ich mich (begibt sich meine Ästhetik) in das h i n e i n, was ich-p e r s ö n l i c h eigentlich scheue. Also: Ich habe Angst vor dem tätigen Vulkankrater, also klettre ich rauf. Ich fürchte mich vor Menschenmassen, also suche ich ihre Nähe. Und h i e r: Ich möchte etwas verschweigen, also veröffentliche ich’s. Ein ganzes Konglomerat solcher paradoxen Interventionen.

Soll ich jetzt besser schlafen oder arbeiten?

NACHTRAG:
D o c h noch zwei Seiten ARGO geschrieben, sogar gute Seiten, aber sehr narrative, keine derart dichten wie die drei Tage zuvor.

Im Messenger Lektoratsdiskussion mit Source über ARGO. Danach kamen die Freunde. Am späteren Abend. Ein schönes Gespräch mit U. und G. bei Zigaretten und Wein. Thema: Neben Privatem das verbotene Buch. Das Biller-Urteil, die Anrufung des Verfassungsgerichts, zu dem sich Kiepenheuer & Witsch jetzt entschlossen hat. Und unser eigener Weg dahin. Die Unterschiede zwischen Billers und meinem Buch diskutiert. (G. ist zugleich mein Anwalt und arbeitet unterdessen mit dem Anwalt meines Verlages freundschaftlich zusammen, der den Prozeß um mein verbotenes Buch führt.) Das öffentliche Tagebuch usw. Noch später kam Katanga hinzu. Ich hab aus ARGO vorgelesen. Die Wandlung des realen GPE in den erdichteten CPK, die Abschiedsszene Kignčrs von der gestorbenen Frieling, die darauffolgende Schlägerszene nachts in der Via Sinai sowie im SANGUE SICILIANO – und ein bißchen was von vorher noch: Die Begegnung der Mutter Kumanis mit Deidameia beim Sterbefest des Vaters (Frau Kumani war selbst im Widerstand gewesen, wovon der traditionsbewußte alte Herr zeit seines Lebens nichts wußte; er hätte es nicht verstanden, und seine Frau trug es, verborgen vor ihm, den sie geliebt hat, ihr ganzes gemeinsames Leben lang bei sich im Herzen).
Erst um halb zwei dann ins Bett.

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