Dienstag, der 6. September 2005.

5.02 Uhr:
[Allan Pettersson, Zweite Sinfonie.]

Um zehn vor fünf hoch, in die Arbeitsklamotten (der Arbeitswohnung; ulkig schwarzwollne leggins, T-Shirt, die Strickjacke von „A. Wuppertal“ – weil es auch eine „A. München“ gab), caffè macchiato, DTs, jetzt Tagebuch, dann gleich ARGO. ABER: Genau das tat ich heut nacht um zwei bereits einmal – also ich kam bis zu den Arbeitsklamotten, jedoch fiel mein Blick, als ich die Lampe einschaltete, auf den Schreibtisch und meine wunderschöne Oris: Da war es eben erst zwei. Also zog ich mich wieder aus und legte mich abermals schlafen und schickte die Gedanken wieder hoch in die Luft. À propos Oris: Ich erzähle das mit der Armbanduhr und zuvor mit der Strickjacke nur, weil das ein Ausdruck meiner seltsamen Form von Treue ist: Gegenstände, die mir einst oder immer noch geliebte Menschen geschenkt haben, trage ich, auch wenn die Beziehung vorüber ist, oft jahrelang weiter. So auch mit Düften. Noch heute lege ich bisweilen quelques fleures von Houbigant auf, das Parfum S. Z.’s, wie um mich an sie zu erinnern, und sie ist dann wirklich momentlang d a. Der Duft ist sogar in THETIS, BUENOS AIRES und ARGO eingegangen und kennzeichnet dort eine weibliche Hauptfigur. Und für mich selbst macht es mir gar nichts aus, daß es sich dabei um ein Damenparfum handelt. Ebenso mille von Patou. Das ist Birgitt, meine erste ‚wirkliche’ Geliebte: ein Beziehungs-Umstand, mit dem ich – ich war damals 25 – überhaupt nicht klarkam: ‚nichts anderes’ als der Mann fürs Bett zu sein – heute werte ich so vieles so anders. Und manchmal nehme ich auch d a s heute noch, es darf aber nur das wirkliche Parfum sein, das eau de toilette hat einen spitzigen Beigeruch, der mich nach einiger Zeit zurückschrecken läßt. Doch wollte ich ja nicht ins Plaudern kommen, verzeihen Sie. Schließlich ist da der Roman.

12.09 Uhr:
… der läuft und läuft. An die drei Seiten geschrieben, obwohl nach vorne hin wieder einiges zu revidieren und auf die neuesten „Ergebnisse“ umzuformen war. Bei den Hunderten Details, die für die innere Schlüssigkeit eines solchen Wälzers zu beachten sind, ist das immer viel Pfriemelarbeit, schon rein material – also dann, wenn bereits ein Klumpen Text ausgedruckt worden ist. Für die ersten beiden ARGO-Teile sind das derzeit 291 anderthalbzeilige Seiten (ca. 2500 Anschläge bei mir – die Rohfassung, da einzeilig, hat ungefähr das Anderthalbfache bei mir). Im Falle einer vorgenommenen Revision ist dann die jeweilige Seite neu zu formatieren und auszudrucken, und zwar auch dann, wenn nur ein Halbsatz dazugekommen ist, der ein Motiv akzentuieren soll, geschweige, wenn ein neues „nach hinten“ hinzugeschrieben wird. Jedes neue Motiv hat nun sofort, wie bei einem Gewebe, Folgen nach hinten, denen bis zur letzten Anschlußstelle gefolgt werden muß, also bis dahin, wo man in der je heutigen Arbeit den Einfall hatte, bzw. die Notwendigkeit der Revision begriff. Vorher kann man nicht weiterschreiben, weil sonst vieles einfach vergessen geht; von so etwas kann ein Romancorpus gefährlich durchlöchert werden. Besser, man revidiert dreißig Seiten und ist dann en vogue, als daß man „es“ erst einmal verschiebt. Doch mit den Revisionen können, obwohl nur wenige Sätze neu formuliert sind, dann Stunden vergehen.
Ich erhitz mir jetzt ein Suppe und leg mich nach dem Essen für den Mittagsschlaf hin.

[Nebenbei ein sich gegenseitig beleidigenes Gekabbel bei http://single.de, das eigentlich /?p=12181” target=_blank” onmouseover=”status=’Runciter ist,wie man auf dem Bildschirm sehen kann, inzwischen völlig wach und gelassen.’;return true;”>>>>> in die Netzfrauen-Reihe gehört; aber ich hab auf solchen Unfug jetzt wirklich keine Lust mehr. Ist ja schon genug dokumentiert, man muß wirklich nicht auf den Redunanzen beharren. Vielleicht hat sich die Reihe ohnedies ‚überlebt’, jedenfalls solange kein neuer Gedanke aufgenommen wird – etwa der einer >>>> Geschlechterdifferenz. Beim letzten Link siehe das Postscriptum.]




21.10 Uhr:


Den ganzen Nachmittag über weiter an ARGO gesessen, den Text nun um fast acht Buchseiten vorangetrieben, darin Deidameia THETIS in einem – i h r e Geschichte betreffenden Strang – für ihren geliebten Kumani rekapitulieren lassen, was für mich nötig war, mir die damaligen Geschehen zu vergegenwärtigen (wieviele Frauen waren es? klar: 50; was war der Handel? Immunität gegen aus dem Osten eingeschleuste Prostituierte sowie das Heilige Kind; wie sah der erste Odysseus aus? was hatte Jensen mit dem zu schaffen? Welche Namen verwandte ich n o c h für die Zollstein?), aber vor allem für Kumani, der überhaupt jetzt erst begreift, wer seine so innig geliebte Freundin i s t (und, nebenbei, was seine eigene Mutter war; daß sie selbst im Widerstand war, was weder ihr Sohn noch ihr Mann jemals mitbekommen haben).




Ein Gespräch mit J. noch, bei http://finya.de, über Mütter und Väter und Kinder und über die Schule im allgemeinen und speziellen, über vermeintliche oder mögliche Hintergründe des Prozesses um mein verbotenes Buch usw. Dabei die Struktur für die nächsten vier Kapitel ARGO skizziert, diese fließenden Bewegungen immer von einem Motiv in ein nächstes und wie unvermittelt ein vorvoriges zurück; aber in Wirklichkeit ist es eine vorwärtsdrängende, doch konzentrisch-elliptische Erzählweise, die ich schon früh, im DOLFINGER-Roman entwickelt habe, der einmal „Die Erschießung des Ministers“ heißen sollte, was aber bei den Verlagen nicht durchzusetzen war. Unterdessen, 35 Jahre später, ist die Form so perfektioniert wie bei Ror Wolf die Collagen, bei denen man a u c h keine Schnittkanten mehr sieht. Arbeite ich, wie heute, nicht nur drei, sondern sechs Stunden nur an diesem einen Text, fällt mir auf, wie leicht es mittlerweile ist, alle Stränge vollkommen glatt miteinander zu verbinden. Das birgt auch Gefahren: denn auch ein nicht-passender Einfall, also ein Fehler, fügt sich ein, als wäre er aus demselben Stoff. Man muß ständig das gesamte Gewebe vor Augen haben; imgrunde ist es wie ein organischer Körper: stört man eine einzige Funktion, gibt es eine Kettenwirkung, die unabsehbar ist (wobei es, um im Bild zu bleiben, auch erzählerische Anti-Körperchen gibt, kleine geschwinde Einsatztruppen der Narration, die Fremdes zumindest verkapseln und deaktivieren können, sofern die Infektion nicht allzu brutal ist).




Dann der Elternabend. *** neben mir, eine intensiv ferne Nähe, als säßen wir beide wie Fragezeichen, die aber nur wir selbst spüren auf unseren Stühlen: Fragezeichen unserer Geschichte, Fragezeichen eines Begehrens, das wie zwei Pflanze mit den Wurzeln aus der Erde gerissen ist; sie haben sich anderswo verwurzelt, sich anderswo zu verwurzeln versucht, der/die eine vielleicht etwas besser als der/die andre, aber beide haben dieselbe Muttererde zwischen den Fingern behalten. Und zwischen ihnen liegt eine Frucht. Wir schauen einander immer getrennt an: ich sie, wenn sie wegblickt; sie mich, wenn ich wegblicke.
Der Elternabend selbst lief ganz gesittet ab. *** mußte ein wenig früher gehen, wegen des Babysitters; ich blieb noch. Ich versuchte, weil ich wußte, *** wäre es gerne geworden, und das Amt dann an sie abgetreten hätte, Elternsprecher zu werden. Daß das nicht gelingen konnte, war mir spätestens klar, als ich in der Diskussion sagte: mein Junge werde von mir dahin erzogen, nur dann Vorschriften zu beachten, wenn ihr Grund ihm erklärt werden könne oder es wenigstens versucht werde, ihn ihm zu erklären. Wenn aber jemand statt eines Erklärungsversuches sage „das ist eben so“, dann habe er alles Recht der Welt, die Vorschrift zu übertreten. Da zuckten einige Eltern aber was! Und ich hatte mal wieder polarisiert. Interessant dabei, daß ich den mir theoretisch-weltanschaulich nächsten Eltern ganz offenbar höchst unsympathisch bin. Umgekehrt spüre ich, daß meine andere, meine mit ungefähr dreizehn/vierzehn selbstentworfene und selbstgeführte Sozialisation hier ein gegenseitiges Verstehen behindert: Und wieder hängt das, glaube ich, mit M u s i k zusammen. Und damit, daß ich zu Gruppen nie gehören wollte. Daß ich Gruppen als geradezu phylogenetisch Fremdes immer mied. Und Gruppen mich ebenfalls mieden, also nicht in sich dulden mochten.
Insgesamt ist es ein muntres Durcheinander von sehr herzlichen Eltern, sehr angepaßen Eltern, sehr widerständigen, aber auch von ratlosen Eltern, ein Mischung aus Affirmation der und Opposition zur Leistungsgesellschaft, beides mit einem bisweilen ideologischen touch. Ich selber tendiere entschieden zur Leistungsorientierung, bin aber zugleich Gegner der Leistungsgesellschaft, weil in dieser Leistung fremddefiniert, also über den Tauschwert und nicht die Inhalte bestimmt wird. Insofern macht mich meine Haltung imgrunde fraktionsunfähig. Was ja nix Neues ist, nun aber den Kleinen betrifft. Es wäre mir lieber gewesen, *** hätte noch dableiben können und sich der Wahl gestellt. Sie wäre gewiß, was sie wollte, geworden. Und hätte das g u t ausgefüllt. Bei mir gibt’s eh immer nur Krach und Verstimmung. Man nennt das „sozial nicht kompatibel sein“. Und das ist völlig richtig. Kompatibel, schon gar sozial, bin ich nie gewesen.




Also ich nach der Versammlung raus, einen Zigarillo geraucht (ich hab noch acht Tage für sowas ab morgen) und das Fahrrad durch die Nacht geschoben. Bei *** anzurufen versucht, sie nahm nicht ab. Als ich dann aufs Fahrrad steige und losbretter, seh ich sie und unseren Kleinen (der bis halb neun bei einer Kita-Mutter untergebracht war) die *straße entlanggehn. Da bin ich hinter ihnen auf sie zu. Der Junge umarmt mich, als ich vom Rad steige, ich teile *** mit, was noch so besprochen wurde, wir stehen da in der beginnenden Nacht, alle drei, richtig froh ist nur der Kleine. Dieses Zögern, das wir beide, *** und ich, haben, dieses n i c h t-weg-Wollen und zugleich weg-W o l l e n. Und wie vergebens falsch es ist, als ich mich dann, sehr plötzlich entschlossen, aufs Rad schwinge, wir uns eine gute Nacht wünschen, mir Adrian eine Gute Nacht hinterherruft… Immerhin, denke ich jetzt, ist es anders als an dem Einschulungstag: Da gingen wir um 180 Grad verschiedene Heimwege; diesmal ist es nur die Hälfte:: ein rechter Winkel. Ein Winkel aber eben doch.


Ich rauche, ich trinke Wein, ich schreibe noch ein bißchen an ARGO.




23.49 Uhr:


Habe auf einen Wink gewartet. Er w u r d e nicht gewunken. Gehe schlafen.

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