Montag, der 12. September 2005.

4.55 Uhr:
[Wagner, Fliegender Holländer. Um meiner Entscheidung Gewalt zu geben.]

Erster rauchfreier Tag; nachts aus dem Schlafen mit einem heftigen Hustenanfall hoch. Dann 4.40 Uhr auf. Jetzt ARGO. Um kurz nach acht Treffen mit *** wegen der Schule. Ich bereite mich allerdings auf einen scharfen Ton vor. Da das mit den Ratten geklärt werden, ich also handeln muß.

7.09 Uhr:
[Wagner, Holländer ff und weiter.]

Ich fürchte, ein neuer, andauernder Wagner-Anfall ist über mich gekommen: Es ist allein diese Musik, die mich strikt arbeiten (und dabei mitsingen und mitdirigieren) läßt, obwohl ich bereits Schweißausbrüche wegen des Nikotinmangels und mich dann auch noch geärgert habe, weil mir eine enfernte Netz-Freundin (nein, n i c h t EvL, sondern jemand g a n z anderes: aber von G. war hier bislang die Rede noch nicht) wegen der Ratten ein paar ignorante und obendrein ziemlich verletzende Zeilen schrieb, die sich wohl nur aus Kenntnislosigkeit erklären lassen. (Nein, ich ‚ärgerte’ mich nicht, sondern die Zeilen taten weh; also reagierte ich, als wär ich verägert. Das ist ein Unterschied.) Ich hab aber keine Lust mehr und auch keine Zeit, mir immer entschuldigend die mangelnde Sensibilität anderer zu erklären, die mir bezeichnenderweise stets als eine eigene ausgelegt wird. Man gerät sonst in eine Verteidigungshaltung, die gänzlich unangemessen ist und angesichts derer die hämischen Leute dann rufen: Nur der getroffene Hund bellt!

In einer halben Stunde muß ich los. Und hab doch keine Lust auf Streit. Und habe also große Angst. Daß alles wieder explodiert. Und irgendwann, als letzte Konsequenz, steht um das Kind ein Sorgerechtsprozeß ins Haus. Egal jetzt. Weiterschreiben. Noch zwanzig Minuten ARGO.

10.01 Uhr:
… und welch ein wunderschöner Umbruch dann, welch ein Lächeln, als man sich sieht… wie man gemeinsam zu der anderen Schule geht… wie man hinterher gemeinsam Kaffee trinkt und sich Mißverständnisse als Mißverständnisse herausstellen und auch so behandelt werden, und wie gar k e i n Streit aufkommt, weil beide einander eigentlich nur gut sein wollen. Wie man dann einen langen Weg gemeinsam zu Fuß schreitet, um noch eine nächste Schule zu suchen, und wie er sie dann zur S-Bahn bringt und man sich locker, wegen der Schulen, noch für evtl. mittags verabredet… wie man sich verabschiedet… – Die ganze in mir zusammengeballte Angst einfach grundlos. Eine seltsame Melancholie.

12.12 Uhr:
[Genn Gould spielt eigene Wagner-Transkriptionen. Was wenige wissen: Er hielt Richard S t r a u s s für den größten Komponisten des 20. Jahrhunderts.]
Mein Umgang mit den Nikotin-Entzugserscheinungen ist eigenwillig: Kommt mich ein solcher Druck (der mehr ein Ziehen ist) a n, dann spreche ich zu mir selbst: Mehr! Ich will m e h r davon fühlen! Los, laß es mich fühlen, wie diese Sucht sich wehrt. Je deutlicher ich es spüre und je hämisch-lauter sie sich zeigt, desto nachdrücklich schlag ich ihr meine Faust in die Fresse. Ich bin, wo ich w i l l, nicht zu überwinden.

14.04 Uhr:
[Wagner, Lohengrin. Mit Fischer-Dieskau. Unter Rudolf Kempe. Sucht-Surrogat.]
Aufgewacht vom Mittagsschlaf.
Schwer. Durchgeträumt wie von Fäden durchwirkt.
Wasser für den Espresso sitzt auf.
Ich singe, den Kopf, gleichsam betend, gebeugt.
Bin verwirrt. Bin gewalkt.
Da trat, entweder einige viele Stunden zuvor oder einige viele danach, Kumani ins SANGUE SICILIANO.

19.10 Uhr:
[Wagner, Ring des Nibelungen I, Rheingold. Karajan]*
So lange ich in den Kopfhörern rauschhaft Musik höre, spüre ich den Nikotin-Entzugsdruck nicht. In den letzten Monaten, merke ich jetzt, war ich nicht bloß abhängig von Zigaretten, sondern habe einen kaum noch steigerbaren Nikotin-M i ß b r a u c h getrieben. Entsprechend jetzt der körperliche Entzug: aber auch er ist höchst ambivalent, wie ich eben beim Einkaufen merkte, als mir ein Raucher entgegenkam und ich spontan würgen mußte, weil mir der spitze, fahle Geruch in die Nase kam. Ich durchjage offenbar auch dies, auch den Entzug wieder und ziehe, was ‚normalerweise’ Tage braucht, auf ein paar Stunden zusammen. So sind dann auch die damit verbundenen Emotionen. Und nichts ist langsam, nichts ist geruhsam.

Heute werd ich bald sechs Buchseiten ARGO schaffen. Dafür öffne ich mal wieder keine Briefe und auch, neuerdings, manche Emails nicht mehr: Hab einfach Angst, das mich etwas, das mir nicht gut tut, wieder aus der Arbeit heraushämt oder -droht. Sogar den blinkenden, offenbar besprochenen Anrufbeantworter hör ich nicht ab. Wer was von mir will, kann mich übers Handy erreichen.

[*): Es ist absolut erstaunlich, welch einen K l a n g diese ungefähr vierzig Jahre alten Vinyl-Schallplatten der Deutschen Grammophon haben; lässig hält er mit jeder modernen CD mit. Allerdings ist das auch eine Frage der Ausgabegeräte. Hier sind es Linn – Accuphase – Stax. ]

3 thoughts on “Montag, der 12. September 2005.

  1. ist die ‘boese’ klassenlehrerin eigentlich die der sie das mit dem “lernen ist schoen” gesagt haben und die darauf hin “geruehrt” war?

    1. Ja. Aber ‘böse’ ist sie sicher nicht. Nur zum einen überfordert, zum anderen offenbar zwanghaft strukturiert. Es sind nun bereits sechs Kinder aus dieser Klasse und von der Schule genommen worden. Mein Junge wird der siebte sein. Damit ist ihre Klasse dann ungefähr noch halb so groß wie die der Kolleginnen.

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