Dienstag, der 4. Oktober 2005.

4.48 Uhr:
[Ligeti, Lontano für Orchester.]
Um halb vier erwache ich mit einer Frage. Will sie eben in Zitatformatierung niederschreiben, jemand stellte sie mir in einer Email, erinner ich mich. Aber sie ist im Moment, da ich sie fixiere, verschwunden. Also sehe ich die letzten Emails d u r c h, finde sie darin aber nicht. Oder fragte mich S. das, mit der ich gestern abend noch auf zwei Bier im Pratergarten saß? Ich weiß es nicht mehr. W a s ich allerdings weiß, das ist, daß ich mir vornahm, mir eine Antwort in der letzten bis zum Weckerklingeln verbleibenden Stunde Schlafs zu erträumen. Auch das war, a l s dann der Wecker klingelte, nicht gelungen. Nur die Frage war noch da, ganz vorn auf Zunge und Seele.

Aber sie hat eine andere Frage im Gefolge, eine Frage, die eine gefühlte Feststellung ist: Ist meine nun zu Ende gehende (‚ausschleichende’) Psychoanalyse eigentlich jemals wirklich an mich herangekommen? Haben wir nicht immer nur d o c h an den Symptomen herumlaboriert? Ist nicht das, was mich gegen derart viel Widerstände in meine allein vom Umfang her riesigen Arbeit hinein- und mit ihr immer weitertreibt, sehr viel mehr daran? Eine Freundin schreibt mir, wie fremd ihr ARGO sei, sie wolle mich nicht kränken; es kränkt auch nicht, aber der Satz sagt mir: Wie fremd ich D i r bin. Es gibt rein keine Differenz zwischen diesem Roman und den meisten meiner anderen Bücher und mir; jedenfalls nicht, während sie entstehen. Sie sind ich. Vielleicht habe ich von daher auch das Problem mit der Privatheit nicht; ich fühle es gar nicht, da ich mich ja ohnedies permanent veröffentliche, ob wie hier in der persönlichen oder wie da in der fiktiven Form, das ist ebenfalls kein Unterschied: Das Ich ist eine logische und emotionale Konstruktion, nicht mehr; man kann sie, um sie zu fühlen, sowohl abschreiten, indem man an den Tagesdaten entlanggleitet (‚autobiografisch’) als auch indem man es projeziert (‚fiktiv’).
Was mich derzeit an ARGO hierneben beschäftigt (das hierüber Formulierte beschäftigt mich nicht während der Arbeit direkt, sondern das ist ihre Grundierung): Wie weit darf jemand ‚einer Sache dienen’, einer gerechten, wohlgemerkt, ohne daß er sich seinerseits ins Unrecht verstrickt? Was also darf man für eine Überzeugung und/oder ein sei es persönliches, sei es gesellschaftliches Ziel opfern? Es ist einerseits d i e Frage des politischen Widerstands und damit a u c h eine des Terrorismus, andererseits eine private: inwieweit ‚darf’ mein eigenes Kind an meiner Überzeugung leiden, indem ich es ihre Folgen mittragen lasse? Um es konkret zu sagen, in meiner jetzigen existentiell so heiklen Situation: Wieso lasse ich von meiner literarischen Arbeit nicht ab und suche mir – allein meines Sohnes wegen, damit es ihm weiterhin gutgeht – irgend einen bürgerlichen meinethalben Aushilfs-Job? Wieso lasse ich, obwohl ich doch sehe, daß es keine Chance für meine Romanästhetik gibt, nicht einfach die Finger davon? Was ist so schlimm daran, sein (gesellschaftliches) Scheitern einzugestehen, wenn es doch das eigene Kind schützen würde? – Derart verbunden ist Privatestes und Öffentlichstes allein schon in ARGO. Und wiederum andererseits: Es brauchte ja nur einen Verlagsvertrag und einen nicht mal großen Vorschuß, und ich wäre aus dem ganzen Unheil bereits wieder heraus…

17.41 Uhr:
[Britten, Gloriana.]
Ärgerlich und verletzend: Eine Freundin, die als solche nicht länger bezeichnet werden will… sagen wir also: die Empfängerin >>>>> einer seit längerem miteinander geführten Korrespondenz schreibt mir, unser Kontakt sei für sie weder anregend noch gewinnbringend, weil ich kein ‚spiritueller Mensch’ sei, sondern „auf der anderen Seite der Wahrheit“ stünde. Das kommt so nach schätzungsweise 200 Briefen und mehreren vorangegangenen Auseinandersetzungen und folgt einem Muster, das ich vom Netz her eigentlich gewohnt sein sollte. Freilich ist die auf ersten Blick berückend poetische Formulierung einer anderen Seite der Wahrheit überaus kryptisch und erhält auch auf Nachfrage keine Antwort. Was ist gemeint? Das Falsche? Nur dieses b l i e b e ja. Oder gibt es eine reale und eine spirituelle Wahrheit? Ich weiß es wirklich nicht, wäre auch neugierig, bin aber von dem Ton, in der die Mail verfaßt ist, ziemlich verletzt. Was i s t es denn, das die Leute an mir immer so aufregt? Ich habe argumentiert, mehr nicht, Argumentation ist T e i l von Diskussionen, was also mache ich falsch? Die Diskussion selbst drehte sich um U-und E-Künste; ich habe eigentlich nur meine Positionen und Vorbehalte erklärt.
Bin jetzt etwas konfus und aus der Arbeit gerissen. Mir geht so etwas sehr nach, ich bin da immer wie eine offene Haut. Auch wenn ich offenbar wie ein Grobklotz wirke. Und wohl deshalb so behandelt werde. Nun ja, jeder bekommt, was er aushält.

23.58 Uhr. Zwei Mitdenker:
[Britten, Violinconcert: Passacaglia.]

13 thoughts on “Dienstag, der 4. Oktober 2005.

  1. Ich möchte an Brecht erinnern: Erst kommt das Fressen , dann kommt die Moral.
    Er war a u c h ein begnadeter Dichter.

    Meint hier; erst das Kind, dann die Prinzipien.
    Wenn dann beides wieder zusammengeht, umso besser.

    1. So einfach ist es für mich nicht. Denn es wäre ein meinem Jungen vorgelebter V e r r a t. Ich l e h r t e ihn den Verrat damit. Und was Brechts Satz anbelangt, nun ja, damit ist es so eine Sache, wenn man aus einer Nazi-Familie stammt. Es ist ein Satz, der alles, auch Auschwitz, entschuldigt.

    2. Ich sehe das aus natürlich – biologistischen Standpunkt.
      Man kanns mit der Moral auch übertreiben. Ihre Nazi – Traumatisierung in Ehren. Sich um Essen kümmern ist noch nicht Unmoral und Auschwitz ist von da aus noch weit.
      Der Junge braucht einen Vater, der ihn liebt (den hat er) und einen, der die Möglichkeit hat, Schönes mit ihm zusammen zu erleben.
      Grundsatzüberzeugungen sind ihm wurscht. Die kommen im Lauf der Erziehung von selbst – und zwar durch unbewußtes Vorleben.
      Weniger denken, einfach lieben.

    3. Weniger denken, einfach lieben. “Einfach” lieben ist eine seltsame Formulierung, wenn sie zusammengeht mit einer Forderung danach, weniger zu denken (was übrigens nicht geht: das ist so, als wollten Sie absichtlich nicht mehr an etwas denken, das Sie aber beschäftigt).

      Unbewußtes Vorleben ist zu vermeiden, finde ich; es geht doch darum, b e w u ß t zu werden.

      Aber mit dem anderen haben Sie schon recht, wobei das Essen kein Problem ist, das war es nie; aber das geschützte Zuhause ist es, und die Ausbildung wird es werden. Und die Frage, die mich wirklich beschäftigt, lautet jetzt: Gebe ich das auf, wofür ich dreißig und mehr Jahre lebte? Bereite ich meinen Abschied von der Literatur vor, um eine Aushilfstätigkeit anzunehmen, Verkäufer irgendwo, Jobs in einer Videothek… ich bin 50 Jahre alt; etwas anderes wird es für mich nach Lage der Dinge nicht mehr geben. Oder ich gehe an die Börse zurück, dann habe ich aber keine Zeit mehr für das Kind; und es wäre ohnedies nur im halblegalen Bereich der Optionsdrückerei noch möglich, da meine seinerzeitigen Lizenzen längst verfallen sind und durch neue Examina wiederzuerwerben wären – was einem 50jährigen kein Brokerage Unternehmen mehr finanziert.

      Zumal: Wenn ich das Schreiben jetzt aufgebe, wird nichs mehr bleiben später, da es absolut notwendig ist, daß dieser ARGO-Roman fertiggestellt wird. Sonst geht mein Werk unter. Schaffe ich es aber, dann wird es bleiben. Um nicht weniger geht es hier. (Abgesehen davon, daß ich gar nicht weiß, ob ich das k a n n: nicht mehr schreiben. Ich b i n mein Beruf, ohne ihn i s t da nichts, von dem als einem Jemand gesprochen werden könnte.)

    4. Ich weiss nicht, ob es auf diese (Art) Frage eine pauschale Antwort gibt. Ist das nicht vielmehr eine Situation, die ganz subjektiv erlebt, bezweifelt und damit auch nur solcherart gelöst werden kann? Nur Sie können entscheiden, wie wichtig Ihnen Ihr Schreiben ist. Wie existenziell Überzeugungne und daraus folgende Handlungen sind. Von den Mitmenschen ist da weder Lösungsvorschlag, noch Handlungsanweisungen. Schon gar nicht Absolution oder Verurteilung.

    5. Die Frage ist an mich selbst gerichtet. Selbstverständlich gibt es keinen adäquaten Rat von außerhalb, vielleicht auch nicht von innen. Es war keine Bitte um Lösungsvorschläge, sondern auch dieses gehört in den R o m a n, der dieses Tagebuch und dessen Gegenstand ein Leben ist – wenigstens der Abschnitt eines Lebens. Das sich nicht verschweigen will, sondern es mit seiner Darstellung ernst nimmt. Deshalb fällt derartig Privates hier nicht unter den Tisch.

    6. Das ist deutlich. Trotzdem war es mir wichtig, die Frage zurückzuwerfen. Vielleicht auch, die letzte Hoffnung zu zerstören. Das die Frage wichtig ist, für Sie wichtig, ist offensichtlich. Auch da denke ich, sie wird es bleiben. Immer wieder. Keine Frage für eine Antwort, sondern für ein sich lebenslang damit Auseinandersetzen.

    7. Meine Hoffnung ist unzerstörbar. Das ist eine der wenigen Konstanten in meinem Leben gewesen; und ich bin mir fast gewiß, daß es auch so bleiben wird. Ich g l a u b e an das Leben. Das ist sehr viel.

    8. Und noch ein Missverständnis. Nicht d i e s e Hoffnung wollt ich nehmen. Allein die auf doch eine eventuelle Antwort aus den Reihen der Leser.
      Bitte fühlen Sie sich nicht angegriffen.

    9. Einige Leser reagieren. Tätig. Das ist mehr, als ich je erwartet hätte. Eine schönere Bestätigung für meine Arbeit ist imgrunde kaum denkbar und wäre über ein Buch so kaum zustande gekommen. Ich bin dafür jetzt sehr dankbar. Von meiner inneren Grundfrage enthebt mich das selbstverständlich nicht. Vielleicht verpflichtet es sogar dazu, sie nun ganz besonders eindringlich und immer wieder neu zu stellen, ohne mich dabei öffentlich schonen zu wollen. Wie gesagt: Vielleicht. Ich weiß es nicht. Ich taste.

    10. “Unbewußtes Vorleben ist zu vermeiden”

      Das w o l l e n Sie vielleicht, – geht aber nicht.

      So vieles , was wir nicht reflektieren, spielt in unseren täglichen Handlungen mit.
      Das können Sie überhaupt nicht vermeiden.
      Deshalb meinte ich, es sei unbedingt wichtig, daß die Grundlage stimmt. Und die ist , was ein Kind angeht, eindeutig : Liebe.
      Der Rest kommt an zweiter Stelle.
      Wobei ich natürlich nicht verkenne, daß der dieses Gespräch auslösende Konflikt wichtig ist – für Sie und ganz allgemein.

    11. “für Sie und ganz allgemein” Wäre dieses Allgemeine nicht, verböte sich ein solches Tagebuch aus Gründen des guten Stils. Das Allgemeine i s t aber, ist immer im Besonderen, lagert sich darin als Struktur ab und ist auch nur im Besonderen, nie im Allgemeinen, also sich selbst, aufzuzeigen: Es braucht das Beispiel. Ganz richtig. Solch ein Beispiel versucht dieser Roman zu beschreiben. Um möglichst viel zu vermeiden: Selbstverständlich ist das ein stets aufs Neue scheiternder Versuch, aber er verrückt vielleicht die Grenzen des Unmöglichen zugunsten des Möglichen und gewinnt aus den unbewußten Meeren wenn auch nicht viel, so doch neues fruchtbares Land.

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