Montag, der 30. Januar 2006.

Guten Morgen, liebe Leser,

soeben vor sechs Jahren wird mein Junge geboren; „soeben“ in 29 Minuten (um 6.55 Uhr) werde ich seine Nabelschnur durchtrennt haben, nämlich…

[Bruckner, Neunte, Harnoncourt.]

… j e t z t.

7.34 Uhr:
Hab mich entschlossen, erst mal am Küchentisch der Kinderwohnung an ARGO weiterzuarbeiten; wechsle ich jetzt in die Arbeitswohnung hinüber (ich solle doch besser von meinem kleinen Atelier sprechen, rief mir jemand, dann gäbe es nicht dauernd diese Mißverständnisse ‚zweier ganzer Wohnungen’; egal), dann komme ich eventuell in den Sprachfluß nicht hinein. Außerdem hab ich Angst vor dem, was sich im Briefkasten findet. Manchmal erinner ich mich. Es gab Zeiten, da rannte ich voller Neugierde hinunter, wer denn was geschrieben habe; es waren lange Korrespondenzen. Seit diese vor allem per Email geführt werden, bisweilen auch als Gespräche in einem Messenger, ist der Briefkasten zu einer Auffangmulde von Unheil geworden: eine letzte Schleuse zu einem hinein, die man besser nicht öffnet. Aber ja öffnen m u ß.
Katanga ist nicht da, hier ist Stille. Na ja, von ‚meiner’ Musik einmal abgesehen.

13.01 Uhr:
Längeres Messenger-Gespräch mit einer ehemaligen Freundin. Weshalb mich die Leute nicht mögen, was ja bis zu Wut und Haß reicht: Es sei meine soziale Inkompetenz, es gehe gar nicht um die Texte. Nun ja, dem ist o f f e n b a r so. Wobei ich zu meiner sozialen Inkompetenz bereits an mehreren Dschungelorten geschrieben habe, mich auch selbst darauf abgefragt habe. Ich weiß es nicht. Kann sein, daß ich sozial inkompetent bin. Das kann aber auch ein Tischler sein und dennoch gute Tische herstellen. Und es gibt viele s c h l e c h t e Tischler, die sozial enorm kompetent sind. Kauft man also lieber deren Wackelzeug? Ob ich nun tatsächlich sozial inkompetent bin, kann ich nicht beurteilen; ich habe wenigen Kontakt, dreivier Freunde, ein paar Brief- und emailPartner, einen Lektor, den ich sehr liebe usw. usf. Ich bin bekannt dafür, daß ich helfe, sobald ich nur kann; jahrelang, noch im letzten Jahr, habe ich, wenn jemand umzog und Hilfe brauchte, jede Last geschleppt, ganze Kühlschränke sechs Stockwerke runter und vier wieder rauf. Fragte man mich wieder, ich wäre erneut da und schürzte nicht irgendwelche Kniegebrechen vor wie die sozial kompetenten Menschen, die mir dabei so einfallen. Undsoweiter. Meinem Sohn gegenüber bin ich, glaube ich, kein schlechter Vater. Ich kann nächtelang zuhören, wenn mir jemand sein Leid klagt. Manchmal geht es nicht, weil ich zu erschöpft bin, dann muß es halt tags darauf sein. Ich würde alles, was mit mir Kontakt habe, ‚verbrennen’, sagt nun diese verstrichene Freundin; nun ja, das ist bei tätigen Vulkanen so. Deshalb ist ihre Erde so fruchtbar. – Ich sei zu einseitig in meiner Darstellung in den Tagebüchern. Herrje, dazu ist es doch m e i n Tagebuch, und keiner muß es lesen. Ist das pc-‚Denken’ nun schon so tief eingewurzelt, daß man die Einrichtung der eigenen Wohnung vorher sozial abstimmen muß? Aber selbst, wenn man einen öffentlichen Salon betreibt, ist es doch die Sache der Gäste selbst, ob sie kommen, ob sie bleiben, und sei’s nur, um sich das Maul zu zerreißen über diese und jene Geschmacklosigkeit, wie jene sozial kompetenten Literaturbetriebsler, und zwar jedes Jahr wieder, nach den Empfängen des Aufbau-Verlages, in deren Anschluß sie den Stab über Lunkewitz brechen (“Was für eine peinliche Einrichtung, wie protzig!” Usw.) Jaja, mir haben davon einige aufs Widerlichste erzählt. Seine edlen Schnittchen aber essen sie gern. Pop-Pop-Pop, wohin man auch sieht.
Doch wie dem auch sei, was sind denn das für Kriterien, um an Literatur heranzugehen? Ist es literarisch sozial inkompetent, wenn man die Dinge untersucht, anstatt sie zu verschweigen? Ich springe weißGöttin in Den Dschungeln auch mit mir selbst nicht sehr zimperlich um. Wir kennen ganz-große Dichter, die sozial überhaupt nicht zugänglich waren, die sich nicht mal unterhalten konnten; ihrer Dichtung nahm das nichts. Völlig inkompetent war, sozial gesehen, der später Gould, ich schrieb schon darüber. Deshalb also hört man seine Interpretationen besser nicht an? Interessanterweise sind oft diejenigen, die sich sozial für enorm kompetent erachten, genau die, die am beliebtesten überall mitschwimmen und ganz furchtbare Machtspiele fechten, aber eben h i n t e r den Kulissen; vorne grinsen sie einen an und, wenn’s schlecht geht, es gibt hier in Berlin solch einen Kandidaten, küssen sie einen sogar auf den Mund. Dreht man sich um, hat der Typ schon das Messer in der Hand. Nein, ich sag nicht, wen ich meine, aber er ist im Literaturbetrieb ausgesprochen bekannt. Weshalb er einer jungen Autorin einmal zu einem… ich sag jetzt: XXX verhalf, das sie gut brauchen konnte und deshalb annahm, begründete er mir gegenüber so: „Die hat solche Titten! Da m u ß man doch helfen!“ Der Mann ist bei fast allen furchtbar beliebt, weil er sozial und umgänglich ist. Leute bleibt mir vom Leib! Ich bin sozial inkompetent. Ist in Ordnung. Kümmert Euch um anderes und guckt Euch den Text an. Denn das, in der Dichtung, ist wichtig. Wie ich in meinem privaten Umfeld bin, das entscheiden sowieso nur die Freunde. Und die Frauen. Die mich dann meiden. Oder halt nicht.