Dienstag, der 11. April 2006.

6.09 Uhr:
Ich lese gerade in Der Dschungel eine interessante, schwierige, auch schmerzende Frage >>>> ferromontes, die ich gestern nicht mehr geöffnet hatte, weil ich wieder ein Nachtgespräch mit >>>> June geführt habe und dazu eine beginnende, ärgerliche Korrespondenz, in der sich beide Seiten eigentlich immer wieder nur verletzen, s c h a r f verletzen. Auf den letzten Anwurf hab ich nicht mehr reagiert, nur den, sozusagen, Anreißer gelesen, dann das Ding als gelesen markiert und abgelegt. Mir fällt zu dem Briefwechsel immer wieder Adornos Satz von den beiden Arbeitern ein, die ihre aus den Arbeitsverhältnissen rührenden Aggressionen gegeneinander richten anstatt gegen den Ausbeuter und die Verhältnisse. Eine klassische Verschiebung. Ich will so etwas einfach nicht mehr, springe zu schnell selbst in diese Dynamik oder werde von ihr aufgesogen. Da ist dann nur noch Verweigerung am Platz. Ich will Wärme, Nähe, Verständnis auch im intellektuellen Umgang, der für mich zugleich immer auch ein körperlicher ist – und zwar selbst dann, wenn zwischen mich und jemanden anderes der leere kybernetische Vorhang zugezogen ist. Ich will nicht, daß immer sofort die Messer blitzen. Zieht es aber der andre heraus, dann ziehe auch ich blank: ohne Gegenwehr verletzen laß ich mich nicht. Auch nicht beschränken. Darum, weil ich so gebaut bin, sollte ich solche Kontakte meiden; sonst stehe ich ständig im Krieg. Das will ich nicht.
Interessant ist allerdings, wie sehr auf genau entgegengesetzten Polen beide Briefpartner stehen – June auf der einen und M. P. auf der anderen -, obwohl in beiden ‚Fällen’ Geschlechtsdifferenzen eine Rolle spielen und obwohl durchaus kontrovers gedacht wird. Entdeckt June an mir eine, sagen wir, Schwäche, dann legt sie sie geradezu vorsichtig vor mich hin, fast streichelnd, zeigt sie, wendet sie, also legt sie bauchoben auf den Tisch, so daß sie ganz wehrlos ist und sich dennoch nicht sofort zusammenziehen muß. Wie umgekehrt auch ich es tu. Wird es nötig, einen sehr konturierten Ton anzunehmen, dann fragen wir beide „darf ich hart sein?“ oder June sagt „ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, verzeihen Sie, sagen Sie bitte, wenn Sie das jetzt zu sehr verwundet“. Bei M.P. hingegen wird eine solche Schwäche fast immer zuerst aufs Stilett gespießt und dann erst vorgezeigt – als wär’s eine noch lebende Jagdtrophäe, an deren schmerzvollem Gezappel man sich weidet. Wie gesagt, in dieser Korrespondenz tue auch ich das, nicht nur der andere. Letztlich handelt es sich um ein sadomasochistisches Setting, in dem beide Seiten wechselweise-flirrend Opfer- und Täterrollen haben – aber ohne daß das als Spiel gezeichnet und, während es geschieht, bewußt wäre. Es p a s s i e r t uns, und zwar, obwohl wir die Dynamik schon kennen. Das ist das Ungute daran.
Aber zurück zu >>>> ferromontes Frage. Ich kann auf sie, weil sie eine heikle Positionsbestimmung erfordert, nicht ohne weiteres beantworten, will das aber im Lauf des Tages unbedingt tun; die Richtung meiner Antwort ist mir allerdings schon klar. Schreibe ich sie aber sofort nieder, ist Mißverständnissen und Verletzungen in vielerlei Richtung Tür und Tor geöffnet.

Um fünf wachte ich vom Wecker auf, in der Kinderwohnung, weil die Arbeitswohnung derzeit unbrauchbar ist, da ich dort nicht ins Netz komme. Da der Telefonanschluß wegen Bamberg zu Freitag abgemeldet ist, will ich mich jetzt nicht wegen der letzten drei Tage noch groß mit der ohnehin und insgesamt ärgerlichen Telekom rumärgern; ich werd also nach drüben radeln, wenn ich für Bamberg packen muß oder um mal was auszudrucken, was wiederum hier in der Kinderwohnung nicht geht.
Von fünf bis sechs schlief ich weiter. Dann stand ich auf. Und werde, nach Abschluß dieses ersten Dschungeleintrags und dem DTs, an ARGO weiterschreiben. – Toll war übrigens gestern >>>> mein Telefonat mit Strato, meinem neuen DSL-Provider. (Daß man eine halbe Stunde lang in der telefonischen Warteschlaufe festsitzt und diese Zeit noch bezahlen muß, ist ein weiteres. Daß man, bei der Deutschen Telekom, bisweilen nie einen kompetenten Mitarbeiter und sowieso niemals zweimal denselben an die Strippe bekommt, ein nächstes. Ein paar Tage lang gab es dort ohnedies nur die Ansage: „Alle unsere Mitarbeiter sind belegt. Bitte versuchen Sie es ein anderes Mal.“ Die Firmen verstecken sich hinter ihren Call-Centers und machen sich unerreichbar. Imgrunde müßte hier v e r k l a g t und ein Musterprozeß geführt werden.)

Heute abend ist >>>>> Lesung. (Der direkte Link funktioniert gerade nicht, scrollen Sie also einfach zum heutigen Datum.)

13.38 Uhr:
ARGO lief ganz gut. Aber danach? Nun ja, es ist so einer dieser verzwirbelten, entscheidungslosen Tage, die ich früher, als ich so um die dreißig war, immer damit überbrückt habe, daß ich ins Pornokino ging. Die gab’s damals noch, nix Overhead-Projektor, auch nix Kabinchen mit Zellstofftüchern zum Abreißen, sondern richtig Kino mit Raucherlaubnis und Abstellfläche fürs gratis beigegebene Flachmännlein. Lacht. Als d i e s e Kultur ihren Niedergang hatte, kamen die Peepshows auf; die mied ich allerdings und zog die kleinen Stripshows vor, an denen mich wiederum die Plexiglaswände störten. Irgendwann erzähle ich Ihnen mal die geradezu rührend naive Szene, wie ich mir einen Privatstrip „mietete“ und dann da stocksteif, aber eben nicht an der richtigen Stelle, herumsaß und nicht wußte, was ich tun sollte, weil dieser Raum so klein war. Das war meine erste und einzige tätige Begegnung mit einer übrigens ausnehmend hübschen Prostituierten. Und stellen Sie sich vor!: Ich fragte tatsächlich:: „Machen Sie das gerne?“ Das war noch die Zeit, in der ich mit einem Gehstock durch die Gegend zog. Immer Krawatte, Anzug, Weste. Ich hatte, erinner ich mich, sowas an die zwölf Paar Schuhe, die eingangs der Wohnung sorgsam geputzt nebeneinanderstanden. Aus der Zeit hängen hier noch meine ganzen Borsalinos herum, die ich heute nicht mehr trage, weil sich jeder, der sich als Schriftsteller ablichten läßt, so ein Ding auf den Kopf setzt – ob es ihm steht oder nicht, Hauptsache Borsa. Als ich Friedrich Christian Delius damit sah und ihn damit auch heute immer wieder mal treffe, faßte ich den Entschluß: niemals wieder. Dann fing auch noch Burkhard Spinnen mit den Borsalinos an. Das ist, als trüge plötzlich jemand von nebenan Ihr Parfum. Nee, gell?, da suchen auch S i e sich ein andres.