Das Credo der ‚realistischen’ Ästhetik.

Je einfacher ein Buch sich liest, desto schwerer ist es erarbeitet.

Johannes Mario Simmel.



Man muß gegen den Satz gar nicht argumentieren, um wahrzunehmen, wie falsch er ist – vor allem: welches Vorurteil er pfiffig bedient. Denn er verschweigt die Hinsicht: für wen liest sich ein Buch einfach? Für alle Menschen? Auch für die, die nicht die Sprache beherrschen, in der es geschrieben ist? Oder meint er nur die, d i e sie beherrschen? Und w e n n die, dann auch die, die sie ‚nicht so gut’ beherrschen? Oder nur die, die sie s e h r gut beherrschen? Und wenn d i e, dann wiederum: w e l c h e: auch diejenigen, die sich in dem erzählten Sujet nicht so gut auskennen, oder nur die, d i e sich auskennen? Undsoweiter.
Es ist mit solchen Sätzen wie mit den Urteilen, die etwas ‚langweilig’ nennen. W a s als langweilig empfunden wird, hängt außerordentlich von Vorerfahungen ab und davon, inwieweit Spannungen als solche wahrgenommen werden können, die zwischen Details existieren. Der Farbenblinde k a n n nicht ein Spiel verschiedener Blautöne wahrnehmen, das ist ihm ganz verschlossen; ein solches Bild wird er möglicherweise als nur-grau ansehen und dann ganz logischerweise für langweilig halten – während andere Betrachter bei einem Ives Klein feuchte Handflächen bekommen. In der Musik gilt das in extrem gesteigertem Maß, ebenso in der Literatur.
All diese Differenzen will die realistische Ästhetik eindampfen; sie ist der Äquivalenzform verpflichtet, die alles gegen eines tauschbar macht. Insofern ist der Realismus die ästhetische Doktrin der Warengesellschaft.

[Simmel ist, übrigens, kein schlechter Autor. Durchaus nicht. Er ist zwar sicher kein Dichter, aber ein guter Geschichtenerzähler, und das ist nicht geringzuschätzen; eher im Gegenteil. Aber er verdinglicht.]

4 thoughts on “Das Credo der ‚realistischen’ Ästhetik.

  1. komplexität & langweile zu dem ursprünglichen eintrag: ich denke, das ist u.a. eine frage dessen, auf welcher *ebene* man komplexitätsreduktion betreibt. was man ja notwendigerweise tut, da man – auf literatur bezogen – aus der menge der möglichen sprachäusserungen eine *auswahl* trifft. dabei bedeutet eine reduktion der sprachlichen (genauer und primär: syntaktischen) komplexität noch lange nicht notwendigerweise eine reduktion der inhaltlichen (bzw. pragmatischen), ebensowenig gilt der umkehrschluss. denn auch der kontext einer äusserung – der ja entsprechend komplexer sein kann – muss ja berücksichtigung finden. hierbei stellt sich zudem die frage, ob kommunikationsprozesse ein *zerlegbares system* sind, das führt an dieser stelle aber zu weit.

    in gewissem rahmen halte ich den simmel-aforismus, so unpräzise und wischiwaschi er auch sein mag (nb: ein typisches kennzeichen sog. «tiefer» sätze), übrigens für durchaus legitim: eine «vereinfachung» beinhaltet nach meinem verständnis nämlich als notwendige bedingung die simulation von unterschiedlichen rezipienten (zumindest von einem idealen rezipienten, der kaum mit dem sich äussernden identisch ist). andernfalls kann mangels kriteria keine entscheidung über «einfacheit» getroffen werden. damit wächst aber der aufwand beim formulieren => mehr arbeit.

    ein kleiner sprung… wäre ein monochromes gemälde nicht eben genau: *einfach*? (was ja den simmelsatz bestätigte.) allerdings scheint mir *kein* bzw. zumindest kein einfacher (sic!) zusammenhang zwischen erfahrung, differenzierungsfähgikeiten und langeweile zu bestehen: z.b. bilde ich mir ein, eine ziemlich gut differenzierende musikwahrnehnung inkl. einiger erfahrung zu besitzen, empfinde aber z.b. morton feldman als *extremst* langweilig. anders gesagt: seine musik berührte mich schlichtweg auch nie. es wäre zu diskutieren, was genau den zustand hervorruft, den ich – mangels besserer alternative – gerne «ergriffenheit» nenne. ein bisher nicht einmal ansatzweise gelöstes problem. (und ausserdem eines, über das ich mich offen gestanden auch erheblich lieber bei einem glas wein unterhalten würde als an dieser stelle/in diesem rahmen.)

    ps: m.e. sehr interessanter und spannender hörtipp in dem zusammenhang: 9 beet stretch von leif inger (www.notam02.no/9/)

    pps: der begriff «realismus» in zusammenhang mit egal welcher kunstgattung liegt mir ‘eh ziemlich quer und schwer im magen, etwa so wie eine übergrosse zuckerstange. wohlgemerkt: zeitgenössisch gesehen, nicht als historischer begriff. «realismus» scheint mir bestenfalls in rein dokumentarischem zusammenhang (als forderung) verwendbar und selbst dort nur unter vorbehalt. übertragen gefragt: wie wäre es z.b. mit einer “realistischen musik”? (wobei: ob z.b. die musique concrète so etwas gewesen sein könnte, wäre ggf. sogar zu diskutieren)

    1. die schönheit des einfachen(der vereinfachung)… bedeutet präzision und präzise können nur meister sein…findet man auch als anspruch in den chinesischen und japanischen künsten jeglicher coleur…
      natürlich kann man sich die gedanken machen,was ist für wen einfach?aber es gibt auch allgemein gültiges…ein gutes frisches brot mit butter und salz dürfte jedem 2. in deutschland schmecken…

    2. ich hätte da so meine zweifel (@martin pätzold) ob aus der literaturwissenschaftlichen ecke (eigentlich der geisteswissenschaftlichen generell) überhaupt etwas ernstzunehmendes in dieser hinsicht möglich wäre. allemal danke aber für die beiden empfehlungen.

      äusserst empfehlenswert finde ich meinerseits z.b. auch deacon, terrence w.: the symbolic species. the co-evolution of language and the brain, new york (norton), 1998 [allerdings ist der blickwinkel ein neurolinguistischer und evolutionstheoretischer, mit kunst & dichtung hat deacon weniger im sinn]

      die wahrheit ist sowieso, dass wir in dem bereich nach wie vor im grunde erheblich zu wenig wissen, auch wenn die entsprechenden forschung alle jubeljahre wieder grosse durchbrüche verkündet. andererseits bin ich durchaus davon überzeugt, dass wir wissen *werden* – fragt sich nur wann.

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