Freitag, der 12. Mai 2006. Bamberg-Berlin-Bamberg.

4.52 Uhr:
[Villa Concordia Bamberg. Kräftig wirbelndes Vogelkonzert.]
Seltsam ist’s schon, daß ich plötzlich wieder um 4.35 Uhr erwache, zu meiner sonst üblichen Arbeitszeit und ganz ohne die Wecker, die erst in einer Stunde schellen. So daß ich jetzt genau diese Stunde für den Schreibtisch habe, bevor zum Bahnhof aufgebrochen werden muß. Mein erster Gedanke war ein Titel: GEWALT DES ZUSAMMENHANGS. Dazu schreibe ich später, vielleicht im Zug, ein paar paralipomene Zeilen und verlinke dann von hier.
Vorher ist aber noch d a s nachzutragen: Nicht nur mußte die Malerin wegen der Grillparty gestern der Villa Concordia unterschreiben, daß jedes (auch versehentlich) zerbrochene Geschirr den Künstlern vom Stipendiengeld abgezogen werde, nein, man hat auch die neue Praktikantin die ausgegebenen Bestecke zählen lassen!: 15 waren es, 15 Gabeln, 15 Messer. Kleinlicher geht es wohl nicht mehr: es langt ans Absurde. Ich hab den Impuls, einen Bestecksatz zu kaufen und der Hausverwaltung zum Geschenk zu überreichen. (Folgendes ist a u c h zu erfahren, daß alles, was ein Künstler, der vorher hier gewohnt hat, den nachfolgenden Künstlern daläßt – Salz, Kochgeschirr, selbst angeschaffte Schaumlöffel, die nämlich fehlen, und Kellen usw. -, vor Neubezug der Studios von der Verwaltung entsorgt wird, z.B. auch ein Kühlschrank, den ein Künstler sich für hier besorgt hatte, weil die Studios kein Eisfach haben. Vor Neubezug wird „gründlich reinegemacht“ und alles rigoros auf den status quo gezwungen. – Was ist das für eine Kleingeisterei? Von der Villa Massimo in Rom, die, wie die Website der Villa Concordia behauptet, dieser Bamberger Einrichtung Vorbild gewesen sei, kenne ich so etwas jedenfalls nicht. Da war es selbstverständlich, daß man Spuren fand, eine angebrochene Packung Salz, eine angebrochene Packung Zucker, Gewürze usw. Ich werd doch nach Ablauf des Jahres a u c h nicht alles wieder mit nach Berlin nehmen, sondern meinem Nachfolger einiges dalassen. Also Grandezza hat man aus Rom hier nicht gelernt.)
ARGO. Bis sechs Uhr.(Der erste Streifen hellen Rots über den schwarzen Bäumen gegenüber, die obere Seite leicht gerundet, ein FormReflex der Erde, schiebt sich ins toscanisch erblauende Grau.)

[Birkenkötter, Sieben Stücke nach Hölderlin und Celan.]

7.18 Uhr:
[ICE Bamberg-Berlin.]
Es ist schon eigenartig: In einem Rutsch eine ganze Seite ARGO geschrieben, zumal die Versöhnungsszene verfeindeter Mutter und Tochter (‚Versöhnung’ ist ein eigenartiges Wort in diesem Zusammenhang: als gäbe es Feindschaft immer nur zwischen Vater und Sohn; es kann aber sein, daß das eine genetische Wahrheit bezeugt) – jedenfalls, als lösten Leid und Chaos von gestern die ganzen Schreibsperren, als durchschlüge sie etwas, das nicht von ihnen bewirkt ist, sondern sich gegen sie wehrt, sie in die Schranken weisen, sie wegtreiben will: Urmoment jeden Kampfes:: Wenn ihr meint, daß ich mich wehrlos euch aussetzen lasse, so habt ihr euch geirrt – und die Befallenen Angefallenen stehen zusammen, und zusammen wehren sie den Eindringling ab. Auch so entsteht, wahrscheinlich, Kunst. Sie ist eine Kampfform, die über genaues Hinsehen funktioniert… über Bezeichnung, also das, was mir im Prozeß um das verbotene Buch untersagt worden ist. Für Kunst gilt aber ganz Ähnliches dem, was Th. Mann in seinem grandiosen Josephsroman über die alttestamentarische Wirkung des Namens schreibt: Weiß denn mein Väterchen nicht, daß die Tiere den Menschen scheuen und meiden, darum, daß Gott ihm den Geist des Verstandes verlieh und ihm eingab die Ordnungen, unter welche das einzelne fällt (…)? Auch die Tiere schämen sich und kneifen den Schwanz ein, weil wir sie wissen und über ihren Namen befehlen und die brüllende Gegenwart ihres Einzeltums entkräften. (…) Wäre er nur gekommen mit Fauchen und gehässiger Nase, lang schleichenden Trittes, so hätte er mir doch den Sinn nicht geraubt mit seinem Schrecken und mich erbleichen lassen vor seinem Rätsel. (…) Und er hätte geblinzelt vor dem Namen und sich weggeduckt vor dem Wort, ohnmächtig, mir zu erwidern.“Und Leid und Chaos hätten geblinzelt vor der Kunst und sich weggeduckt vor der Dichtung, ohmächtig, mir zu erwidern.“

[Maderna, Venetia Journal.]

Mein Kopf braust. Momentan gehen Romanszenen, Paralipomena, persönliche Überlegungen und Gedankensplitter (Zu sagen: „Das ist meine letzte Frau gewesen.“) ziemlich wüst durcheinander, die Bilder jagen sich gegenseitig, aber auch Formulierungen entstehen ad hoc; es ist ein solcher Reichtum, daß ich auf eine melancholische Weise vollkommen beeindruckt bin. Zugleich wird wieder klar, daß dieser enorme Druck zu schaffen schöpfen ein Ausdruck dessen ist, was mir zum persönlichen Vorwurf gemacht wird: „Du stellst deine Literatur über alles, auch über Menschen.“ Sogar neulich von meinem kleinen Sohn. „Ich liebe dich mehr als alles auf der Welt“, sagte ich. Da erwiderte er, der Sechsjährige: „Das stimmt nicht ganz, Papa. Für dich ist es wichtiger, daß dein Roman läuft.“ Da war ich momentlang erschrocken. Weil nämlich etwas daran ist: nicht wegen des Romans, nicht wegen der Bedeutung von Kunst als solcher, sondern >>>> weil ich mich durch Literatur überhaupt erst zu einem definiten Ich entwickelt habe, weil mir ohne sie die Persönlichkeit zerfiele. M i t ihr aber ist sie enorm präsent. Und s c h a f f t doch auch ständig, wirft unablässig Ideen und Geschichten aus sich heraus, die, das ist nicht zu vergessen, Welt bereichern; es ist wie mit dem Entstehen neuer Arten, wiederneuer Arten, weiterer Arten: daß das Leben so großartig wimmelt, rührt rein aus kreativer Energie, sei sie bewußtlos wie wahrscheinlich die der Natur, sei sie gewollt wie in der Kunst. (Hier liegt die bleibende Wahrheit der Vorstellung eines mimetischen Verhaltens von Kunst; sie vergißt aber eben Bewußtsein & Wille). Mir diese Kreativität nun zum Vorwurf zu machen, kommt dem Vorwurf gleich: „Du stellst, daß du atmen kannst, über alles.“ Mir wird mit diesem Vorwurf zum Vorwurf gemacht, daß ich bin. „Atmeten wir nicht, mein Junge“, so hab ich dem Jungen deshalb geantwortet, „dann hättest du nicht Vater mehr noch Mutter. Habe drum Achtung vor der Arbeit.“ Er hat den Gedankensprung wahrscheinlich nicht verstanden. Aber das macht nichts. Er wird sich eines Tages erinnern.
(Übrigens habe ich des gleichen Umstandes wegen überhaupt keine Angst vor dem Tod: Er wird mich fassen, wenn ich nicht mehr arbeiten kann. Es wird kein langes Siechtum geben – es sei denn, ich hätte noch dringend etwas zuendezuschreiben. Und dann wäre auch d a s ganz in Ordnung, denn ich würde ja wählen. So etwas wie ein Rentenalter kommt jedenfalls für mich nicht infrage.)

12.15 Uhr:
[Berlin Kinderwohnung, Küchentisch.]
Eine weitere ARGO-Seite im Zug geschrieben; aber kaum fahren wir in Berlin ein, überschwappt mich wie eine Welle die Depression. Dieses Schweigen, dieses einfach-nichts-Sagen, dieses nicht-sprechen-Wollen von Menschen, macht mich völlig fertig; daß es Menschen gibt, die es vorziehen, sich böse zu verbittern und zu versturen. Es wäre doch so einfach: „Sag mal, können Sie nicht…“ oder „Sag mal, kannst du nicht… Das ist mir nicht recht.“ Ich würde fragen, warum, würde zuhören… und es dann sehr wahrscheinlich nicht tun, schon, weil es Der Dschungel ja nicht darum geht zu verletzen, sondern Dynamiken darzustellen, in denen wir alle befangen sind – und dies auf eine sprachliche Weise zu tun, die Schönheit in Anspruch nimmt – weil Schönheit wirklich das einzige ist, was sich dem Unheil entgegensetzen läßt.
Ich denke und denke. Will aber n o c h eine Seite ARGO haben heute. Außerdem. Und an den Kaschmirtext will ich gehen; mir fiel gestern abend ein Ansatz ein, der sich bis heute gehalten hat. Was für ihn spricht.

Und Katanga erzählte gerade, man habe gestern von drei Seiten aus versucht, die fiktionäre Website zu knacken; die ID’s sind gefixt, und es sieht nicht so aus, als wären die Angriffe gelungen.

22.04 Uhr:
[ICE Berlin-Bamberg.]Der Zug hat eine Viertelstunde Verspätung, der Junge ist bereits kurz nach acht in dem Kinderabteil eingeschlafen, das wir, obwohl der Zug nahezu überfüllt ist, völlig leer vorgefunden haben. Wir haben warm zu abend gegessen, dann wollte er Sherlock Holmes sehen, aber bereits nach zehn Minuten sackte sein Kopf zur Seite. Jetzt liegt er auf der Längsbank vor mir; zwischen uns ist der Tisch; ich hab den Jungen mit zwei Schals zugedeckt und werde ihn in einer halben Stunde wecken, damit er für den Ausstieg rechtzeitig zu sich kommt. Immerhin haben wir kaum Gepäck; dennoch will Alexandra uns abholen und in die Villa Concordia bringen.
Die Depression ging fort, kaum daß ich Berlin wieder verließ, und machte einer gedrückten Ruhe Platz. Dennoch hab ich dann nicht mehr gearbeitet im Zug, sondern eine maue Dracula-Verfilmung gesehen. Imgrunde bin ich so müde wie mein Junge und will morgen auch abermals um halb fünf aus dem Bett. Drei Seiten ARGO sind es tatsächlich geworden; am Kaschmirtext aber war ich noch nicht.

Seit heute mittag Probleme auch damit, übers Mobilchen ins Netz zu kommen. Aber ich will mich erst morgen drum kümmern.
Habe die Idee eines Liebesromans, Beziehungsromanes ist besser: mit dem Focus auf Leidenschaft und wie sie in Unglück Unverständnis Pragmatismus kippt; wobei nicht so sehr die gegenseitigen Hoffnungen und Enttäuschungen eine Rolle spielen, als tatsächlich mehr die voneinander sehr unterschiedenen männlichen und weiblichen genetischen Programme, die, Hand in Hand mit Sozialisierungsfolgen, durch die dem allen nahezu ausgelieferten Personen hindurchwirken und sie, ob sie das wollen oder nicht, bestimmen. – Aber das, wie der andere Roman und ohnedies die Frauen-Männer-Reihe (Melusine Walser, DLZI usw), wird der Zeit n a c h ARGO angehören.

2 thoughts on “Freitag, der 12. Mai 2006. Bamberg-Berlin-Bamberg.

  1. Dieses Schweigen, dieses einfach-nichts-Sagen, dieses nicht-sprechen-Wollen von Menschen, macht mich völlig fertig; ich frage mich ja,warum ich hier ab und zu lese?….und nun habe ich gerade ihr tagebuch gelesen und ihre zeilen(s.o.)..merkwürdigerweise ein thema ,womit ich aufgewachsen bin und was ich längst verarbeitet haben sollte…und dennoch beschäftige ich mich gerade genau damit…denn es kreiert eine zwanghaftigkeit…unbedingt den menschen das abzutrotzen zu wollen,was man nicht bekommen kann…eigentlich sollte man sich bei dieser erkenntnis umdrehen und gehen…aber interessanterweise ist das sehr schwierig…dennoch s i n n l o s…ja…

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