Sonntag, der 14. Mai 2006. Bamberg – Berlin.

4.41 Uhr:
[Villa Concordia. Die ganze Glasfront des Studios ist regennaß verschliert.]
Im heutigen ‚vögelnden’ Morgenkonzert (auf dieses Adjektiv sind die Vögel ja wohl aus) gibt eine Amsel den deutlichen Vorsänger ab. Vielleicht brachte mir das, als ich mit dem Kaffeepott eben hinaustrat, eine bestimmte Perspektive auf den Barockgarten (zu dem ich über die Streinbrüstung zwischen zwei der Statuen hinabsah): er sieht nämlich nach dem Deck eines alten schweren Schiffes aus, sagen wir einer Kogge: das hintere Achtel, also das Heck, ist erhoben, und links und rechte führen je eine Treppe hinauf; und es wird von einer steinernen Reling beschlossen. Mitten darauf läßt sich gut das Steuer imaginieren. Nun hat der Garten freilich keinen Bug, statt dessen steht dort das Schlößchen. Und der Blick funktioniert s o wohl auch nur von meiner Seite aus, weil ihn das nachtdunkle Wasser verstärkt.

Es scheint etwas Identisches in Dauer und Tiefe jeweiliger Schlafphasen zu sein: Gehe ich gegen zwölf zu Bett (und hatte den Mittagsschlaf), weiß ich um halb vier dem Wecker zu folgen, ohne auch nur auf die Idee zu kommen, ihn auszustellen und weiterzuschlafen. Und es ist lästig, daß ich mehrere Wecker leicht zeitversetzt stellte.
Mein Junge schläft tief, ich geh an die Arbeit.

8.10 Uhr:
Der Junge schläft immer noch. Draußen gießt es. In einem Rutsch habe ich 2 ½ ARGO-Seiten heruntergeschrieben, und ich könnte einfach so weitermachen. Muß jedoch die Arbeit jetzt abbrechen. Wenn wir den 11.09er ICE pünktlich erreichen wollen, muß ich jetzt Frühstück machen, mich rasieren und duschen, spätestens danach den Jungen wecken, der auch noch unter die Dusche muß, unsere Sachen packen, vor allem auch meine für die Oldenburger Lesung übermorgen… es ist so schon nur noch wenig Zeit.
Wenn es so weiterschüttet, werd ich uns allerdings für Viertel vor 11 ein Taxi bestellen. Sonst kommen wir klitschnaß am Bahnhof an – und das mit dem ganzen Gepäck. Und mit Ratzfelix dazu.

11.48 Uhr:
[ICE Bamberg-Berlin.]
Pünktlich am Bahnhofe gewesen, vorher auch alles Notwendige erledigt. Erst einmal wieder vergeblich versucht, bei t-mobile anzurufen; die Verbindung war dermaßen instabil, daß ich permanent aus den Gesprächen flog. Da scheint man dortseits ein Einsehen gehabt zu haben und von sich aus tätig geworden zu sein; denn plötzlich geht der mobile Netzzugang wieder, der seit Freitag mittag defekt war. Also von hier aus ein Danke hinübergeschickt.
Der Junge spielt mit anderen Kindern in einem ziemlich vollen Kinderabteil, schaut von Zeit zu Zeit her und stürzt dann wieder freudig von dannen.
Ich muß seit heute morgen immer wieder daran denken, wie seine Mama und ich direkt nach seiner Geburt vor dem Sauerstoffkasten saßen und wie ich laut zu dem Säugling sagte: „Wir werden immer da sein für dich, nichts wird dir passieren, das verspreche ich dir. Deine Eltern werden dich niemals verlassen.“ Womöglich ist das bereits ein Reflex auf meine eigene Kindheitserfahrung von Vatertrennung und Vaterverlust gewesen. Ich stellte damals aber einen solchen Zusammenhang noch nicht her. Er wurde mir erst über die letzten Jahre bewußt, geradezu dringlich bewußt.

Auch das ist zuzugeben. (Jemand hat mal von dem verbotenen Buch als von meinen confessiones gesprochen.)

Ich erinner mich grad, daß während meiner Kindheit und Jugend meine Mutter gegen meinen Vater permanent juristische Schuldtitel erstritt. Da ging es um Unterhaltszahlungen. Er überwies nie Geld; wie ich heute weiß: weil er schlicht keines hatte. Es ist indes die Umgangsform, die mir nachgeht, nicht das Fakt an sich. Nie wurde gesprochen, sondern Anwälte verdienten an dem ‚Fall’. Es war, wie die Juristen während meiner ReNo-Gehilfenlehre immer sagten, viel gutes Geld dem schlechten nachgeworfen. Aus einem Prinzip. Ich frage mich jetzt, ob nicht ein Anruf vieles vieles hätte zurechtbiegen können. Es s o l l t e (wollte) aber nicht gesprochen werden. Auch darüber werde ich schreiben, ob man das will oder nicht. Kohlhaas. Nun gut.

Daß ich mein Inneres so bloßlege, ist Ihnen das – peinlich? Verzeihen Sie meine Häme. Ich h a b sie, ich kann nichts dafür. (Und während ich dies tippe, wirkt parallel, nämlich sogleich, die Frage nach der Form: Was schreibe ich kleiner, was normal, was setze ich in eckige, was in runde Klammern? Wie gelangt der Inhalt zu einer Darstellung, die ihm am ehesten entspricht? Noch das Persönlichste soll gestaltet sein, damit die Korrespondenzen der Gedanken untereinander ‚stimmen’.)

17.38 Uhr:
[Berlin, Kinderwohnung.]
Vielleicht das Schlimmste ist, SIE nicht gesehen zu haben. Aber ich hörte ihre Stimme kurz, als ich das Rad meines Jungen auf dem Hof anschloß. Ich hatte ihm alles mitgegeben, ihn noch Blumen besorgen lassen, so stapfte er dann allein hinauf. Und ich ging. Sie haben geflüstert beim Abschied im Treppenhaus, der Vater und sein Sohn.
Hab mir Wein besorgt und zwei DVDs. Die Freunde sind nicht in Berlin. Zu arbeiten ist ausgeschlossen. Und sollte sich die Flasche zu schnell leeren, dann hol ich mir halt noch eine. Nicht länger – was, kaum daß ich wieder in Berlin war, furchtbar losging – grübeln, sondern sich einfach um den Kopf konsumieren. Meine poetische Konsequenz hat einen sehr hohen Preis, und nicht immer kann ich ihn zahlen mit Stolz.

Auch das ist zuzugeben. (Jemand hat mal von dem verbotenen Buch als von meinen confessiones gesprochen.)

18.20 Uhr:
Ich hab grad solch eine Lust, mein mich-Besaufen zu protokollieren und zu veröffentlichen. Und höre Sie schon rufen: Mein Gott, was ein schreckliches Selbstmitleid! Da kann ich dann nur lachen, höhnisch und böse und voller Verachtung. Denn wer wagt es denn sonst, sich dermaßen einzugestehen, sich zu zeigen? Alle kriegen Sie doch das große Schrumpeln, wenn es um innere Empfindungen und ihr Eingeständnis geht – also darum, sich ihnen zu stellen. Alle verdrängen Sie doch und wichsen sich noch einen darauf, wie r e i f Sie seien. Ah, bleiben Sie mir doch vom Leib mit so viel mieser Angst! Daß ich schwach bin… ja und? Weshalb soll ich’s nicht sagen und zeigen? Weil sich das nicht ‚gehört’? Soso. Jaja. Wessen Angst ist wohl größer? Und wessen wovor?