Sonntag, der 4. Juni 2006. Pfingstsonntag.

6.47 Uhr:
Mit leichter Depression aufgewacht, irgend ein Traum mag schuld sein, auch die Themen mögen schuld sein, über die Ricarda und ich gestern nacht so lange sprachen. Und es wurde mir beim Aufwachen klar, daß ich ja gar nichts mehr hier zu tun und also zu suchen habe, so daß ich gleich aufbrechen und den 8.03er-Zug zurück nach Bamberg nehmen will. Wann ich drankäme mit der Grimmelshausen-Lesung war doch spät erst klar; andernfalls hätte ich jetzt auch nach Berlin fahren können, um meinen Jungen wenigstens für einen Tag bei mir zu haben. Er fehlt mir, fehlt mir sehr. S o nun werd ich die leere Zeit heute und morgen nutzen, um das Libretto zuendezuschreiben.
Ich geh eben ein Brötchen essen, dann verschwind ich hier.

7.50 Uhr:
[Bahnsteig 3. Bahnhof Gelnhausen.]Das Schlimmste aber, das einem Menschen geschehen kann, ist, wenn ein anderer Mensch, den dieser Mensch über alles in der Welt liebt, ihn vernichten will. Und er sich nicht einmal wehren mag.

Ein Gedanke kam mir eben auf dem kleinen Weg zum Bahnhof: daß ich jetzt, wo es nun gar nicht nötig wäre, o h n e meinen Jungen b i n, spielt schon durch, wie es denn sein würde, müßte ich eines Tages fliehen:: vor den Forderungen, den Geldstrafen usw.:: müßte ich, um nicht in Gefängnis zu kommen, ins Ausland fliehen und alles zurücklassen, was mir wert ist, was mir auch Atem ist, vor allem mein Kind. Ich betrachte diese beiden Pfingsttage jetzt als Emigrationszeit und werde arbeiten aus der Einsamkeit. Anderen Künstlern vor mir, aus je verschiedenen Gründen, ging es nicht anders; warum also soll mir das erspart sein? Zumal es eine Bekanntschaft mit dem Schmerz ist, die es einem erlaubt und mich instand setzt, über Schmerz auch zu schreiben (zu malen zu komponieren). – Dieser Gedanke hat nichts Tröstliches, aber er spült mich in eine Haltung, die mich alledies aushalten läßt. [8.05 Uhr. RE nach Fulda.] Sie hat etwas von Duldungsstarre, ist aber nicht starr, sondern bloß taub. Es ist eine Form von äußerer Leere, die um die innere Fülle herumgebunden, mit der sie verschnürt wird. So daß sie nicht platzt. Vielleicht führt das zu einer besonderen Form von Konzentration.

9.39 Uhr:
[RE Würtzburg-Bamberg.]
Hab mich für den direkten Bummelzug nach Bamberg entschieden, hätte auch einen etwas schnelleren RE nehmen können, aber dann noch einmal in Schweinfurt umsteigen müssen. Besser aber, ich fahr etwas länger und bin dafür in der Arbeit nicht ein weiteres Mal unterbrochen; das Libretto läuft sehr gut, bekommt allerdings einen deutlich verlorenen Ton. Den braucht das Stück auch, nur daß ich nicht dachte, es werde derart „privat“ werden; ich hatte mehr an eine grundsätzliche Tragik gedacht. Jetzt zeigt sich wieder einmal, wie eine jede ins Persönliche geerdet ist. „Das ist ihre Art.“

10.39 Uhr:
Libretto in Rohfassung fertig. Ich bin mit dem Ende, in das ich eine Erzählerstimme eingefügt habe, noch nicht ganz sicher. Aber das soll sich erst einmal RHPP anschauen. Gleich in Bamberg muß gefeilt werden; die Versmaße müssen sitzen.

11.36 Uhr:
[Villa Concordia Bamberg.]
Zurück. Auf dem Weg vom Bahnhof fand ich eine Reise annonciert: Mallorca, eine Woche HP, 229 Euro. Momentlang dachte ich: Das nimmst Du wahr! Und suchst die Finca wieder, in der dein Vater zurückgezogen seine letzten Jahre verbrachte – und schaust, ob du sie wieder intakt setzen und deinerseits dich dahin zurückziehen kannst. Das wäre in der Tat der Gipfel einer Wiederholung von Mustern. Zumal er ungefähr so alt war, wie ich jetzt bin, als er… ja: seelisch dahin emigrierte (er sprach bis zu seinem frühen Tod, mit 60, nicht Spanisch, w o l l t e nicht sprechen).
Nun sitz ich hier am Schreibtisch und denke: Nein! nicht fliehen, sondern kämpfen.

0.00 Uhr:
Steppenwolf sein und (allmählich) begreifen = fühlen, was das bedeutet. Wichtig: Man w o l l t e es immer sein, aber die heroisierten Konsequenzen fühlen sich anders an, als man glaubte – wenn man es denn dann tatsächlich i s t… g e w o r d e n ist.
(Noch in diesem letzten Eintrag ist viel zu viel Heroismus.)

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