Donnerstag, der 15. Juni 2006.

9.04 Uhr:
[Villa Concordia Bamberg. Bedeckt aber warm. Leichter Kater.]
Mit A., ihrer Freundin M., Zschorsch und J. „auf dem Keller“ gewesen, lange gesprochen; Zschorsch, dem ich von F. erzähle und von Vergeblichkeiten und der das Gedicht liest, sagt: „Das ist doch wunderbar, welche eine Kraft einem so etwas gibt, immer wieder, wie das zum Ausdruck drängt und wie man ihn dann findet! Ganz wunderbar! Als gäbe es etwas in einem, eine poetische Instanz, die angeschoben wird davon.“ Überhaupt neigt er, wenn man ihn näher kennenlernt, zum Schwärmen, zur Bewunderung von Leben, auch von fleischlichem Leben. Von Geist zudem und Stille. Von Kirchenräumen. Er kommt erst mit deftigen, oft sogar rassistischen Aussagen, etwa über Völkerschaften Kulturen. Dann darf man nicht zurückschrecken, nicht seinerseits ins – vorgebliche/tatsächliche – Vorurteil verfallen, sondern muß nachfragen. Meisterin darin ist A., die auf ihre sehr einfache, zugleich überaus frauliche, dazu immer innige Weise ganz einfach fragte: „Wieso bist du so, wie du bist?“ Und er gibt dann Antwort, klar, ruhig, entschieden. Und von dem anscheinenden Rassismus bleibt so kaum noch was zurück.
Nach dem Keller noch zu J.’s Haus, auf die Terrasse. Es ist eine traurige, bedrückende Geschichte: Er hat ein Nest gebaut, ein Haus, einen Garten – dann ging die Frau. Er leidet auf lächelnde Weise sehr; dieses Lächeln i s t Schmerz. Freut sich über jeden Gast; möchte nichts als Harmonie und glaubt an sie. Keine Ahnung, was besser ist: N i c h t an sie zu glauben und so sehr enttäuscht zu werden oder an sie zu glauben und so sehr enttäuscht zu werden. Wobei der, der nicht an sie glaubt, ganz sicher oft der ist, der ebenfalls enttäuscht – der, sagen wir, „Kämpfer“, dem der Kampf derart im Blut ist, daß er ein ruhiges Leben gar nicht aushalten könnte – auch dann nicht, wenn sich etwas in ihm, sagen wir hier: das Kind, danach sehnt. Steppenwolf. Und wiederum seltsam: Zschorsch kultiviert seine Einsamkeit, was zu einer Stille-auf-der-Oberfläche führt, aber zu barschen Ausfällen, wenn ihm etwas zuwider ist. Ich meinerseits versuche, Gesellschaft zu kultivieren, soziale Einfügung, was dazu führt, daß ich meist lange sehr konziliant bin, n i c h t s sage, aber dann, wenn mir etwas nicht gefällt, soziales Verhalten an sich attackiere, und zwar ebenso scharf. Jetzt mal meinen Haß auf formale Autoritäten beiseite, die nicht seelisch gefüllt sind, sondern bloß durch Bestimmung und Funktion.

Also wieder lange geschlafen; ARGO hängt, kann man sagen. Irrerweise nicht wegen einer Schreibblockade – ich weiß ja genau, wie es weitergeht, was zu tun ist; mir ist jetzt so gut wie alles klar -, sondern aus Melancholie. Imgrunde ist mir heute morgen schon wieder nach einem Gedicht, da muß ich mich jetzt wirklich disziplinieren. (Gestern abend dachte ich kurz: – ob der Weg ins Gedicht mein Altersweg ist? Und dachte wieder an Goethe, der immer bedeutsamer wird, und dachte: Wer wirklich ins Oben gehören möchte, muß auch diese Ausdrucksform, und zwar grundsätzlich und perfekt, beherrschen; so wie’s bei Nietzsche steht: „Was ist an einem Buch gelegen, das einen nicht einmal über alle Bücher hinaushebt?“ Das gilt für Gedichte genauso.)

Und morgen früh fahr ich nach Berlin und hole endlich meinen Sohn wieder zu mir. Ich freu mich auf das erstaunliche Kerlchen.

15.46 Uhr:
[Händel,Orlando.]
Zu schlafen versucht, es ging nicht. Die Gedanken über und über. Als ich das merkte, einen ziemlich schmutzigen Porno angesehen, um den Körper zu erschöpfen. Aber diese Art Erschlaffung half dann auch nicht, nur nackt dahingebreitet lag ich auf dem Bett im oberen Stockwerk, wo man die Wärme schneiden kann; beides war sehr angenehm. Ich ruhte. Aber dachte unentwegt an meinen Beruf und die Folgen, die er hat. Das Gespräch mit Zschorsch wirkte weiter und verband sich mit meinen Gedanken an F., zu denen, sowieso immer, Ω-Gedanken kamen. Was mir dieser Beruf geschenkt hat! Was er mir aber auch nahm und weiterhin nimmt. Mit >>>> solchen Dynamiken bin ich doch unentwegt befaßt, war es auch lange v o r Der Dschungel schon; schließlich hätte es mich als den, der ich bin, überhaupt nicht gegeben ohne Literatur und es gäb ihn noch heute nicht. Auch bei F. schimmert nun der Vorwurf leise durch (ich lese ihren Text immer und immer wieder): die stete suche nach der projektionsfläche. Daran i s t etwas, wie auch eben nicht, und beides mit tiefer unbedingter Wahrheit. Die Menschen nehmen es wahr, als würden sie benutzt, obwohl es doch eine Umgangsform wie das Atmen ist; ich weiß nicht, wie Ihnen das klarmachen, die Sie zumeist ganz andere Berufe haben, in denen es auf den Ausdruck von Leben gar nicht ankommt, sondern worin Privatheit möglich ist, ohne daß man etwas aus seiner Arbeit hinwegzensiert, die, wenn man sie mit Liebe tut, Berufung sein muß. Ich glaube sogar, daß intensive Texte (ich hasse diesen profanierenden Begriff), wie ich sie verfolge, daß dieser ganze Kleist-Weg nur dann möglich ist, wenn einer ihm im Leben auch entspricht und durchlebt, wovon er dann schreibt malt komponiert. Es wäre sonst immer Lüge Verleugnen dabei. Die Dichtung käme nie bei den Gründen an, was sowohl die Ursachen meint wie den Humus Leben an sich. Eine Geschichte wie >>>> die Vergana hätte gar nicht geschrieben werden können (schrieb ich sie? schrieb es sie?), wäre ich nicht gerade von dieser Haltung beseelt und besessen.

18.28 Uhr:
[Händel, Orlando (ff).]
Tatsächlich etwas ARGO geschrieben, auf eine Seite werde ich heute kommen. Immerhin. Zschorsch kam, A. kam und brachte einen Prosecco mit. Wahnsinn, denke ich, wie der wirkt! Bis mir einfällt, daß ich heute gar nichts gegessen, nur Kaffee getrunken, am >>>> Gedicht geschrieben, geraucht, gewaschen und über meinen Jungen nachgedacht habe. Ich habe immer noch nichts gegessen, habe keine Lust zu essen, sondern treibe jetzt, da alle wieder fort sind, auf der Musik wie auf einer Rutsche. Allerdings will Zschorsch in einer Stunde wiederkommen, dann gehen wir was essen. Dann wirklich. Bis dahin ARGO und allerlei Korrespondenz.22.22 Uhr:
[Jarrett, München 1981.]
Jetzt ist der schöne Mann bei ihr, der Liebhaber, auf den sie sich freut, der ihre Verwirrung, schrieb sie vorhin, zurechtrücken solle. Jetzt ist er in ihr wahrscheinlich. „Und wie fühlt sich das an für dich?“ fragt A., mit der und Zschorsch ich beim Essen sitze und erzähle, während um uns das Fußballfieber schäumt. Ich kann kaum antworten. „Ich weiß es nicht“, sage ich. Aber in meiner Antwort an diese Frau war ich überaus souverän. Ich habe nicht mal gelogen, fühle tatsächlich nichts, keinen bohrenden Schmerz jedenfalls, etwas Melancholie vielleicht. Insgesamt bin ich, wenn ich dran denke, taub. Das ist das genau richtige Wort. Vier Jahre ist es her, daß ich, was ich so liebte, verlor. Vier Jahre haben es in mich eingeschliffen: auszuhalten. Nun halte ich weiter aus, hier wie dort. Es will mir als das erwachsenste vorkommen, wie einer sich verhalten kann. Zumal in dieser Situation, die ohnedies kein Recht auf Erwartungen hat. Und meine Hoffnungen… Leser, die sind wirklich meine Angelegenheit.
Kurz gab es vorhin wieder ein Gespräch mit Lilith in Wien. Sie sagt: „Das ist es doch, was eine Frau will: Exklusivität.“ Nun ja, denk ich jetzt, das verstehe ich. Aber das Verlangen nach Exklusivität erstreckt sich auch auf meine Arbeit. „Weißt du“, sag ich zu Zschorsch, da ist A. schon fort, „ich möchte die Exklusivität ja auch geben, aber diese Frauen weiten sie auf meine Dichtung aus: sie wollen nicht vorkommen als Material.“ „Dann versprich ihnen das doch“, sagt er, „dann l a ß sie nicht vorkommen.“ „Das geht nicht, denn ich selbst bin ja mein Material. Ich arbeite mit dem, was ich sehe fühle schmecke denke. Wie soll ich ausklammern g e r a d e das, was für mich das Exklusivste ist? Das ist es doch, was am meisten in mir wirkt. Laß ich das nicht in die Dichtung hinein, verfälsche ich sie.“ „Dann ist das“, sagt er trocken, „ein Dilemma.“ „Ja“, sag ich, „das ist ein Dilemma.“ Und schreibe vielleicht, ich hab den Impuls, dem schönen Mann ein Gedicht, gewidmet F.

Jedenfalls will ich ihre Site nun zweidrei Tage lang nicht lesen. Ich hab das, in >>>> Alma Picchiola – sehr ironisch und zugleich, in der schicksalhaften Bewegung dieser Erzählung, ernsthaft grausam -, „bewußte Verdrängung“ genannt, was ein ebensolches Eisenholz wie ein schwarzer Schimmel ist. Und dennoch, wie die Substitutionsmethode in der Mathematik, funktioniert. Ich möchte aber nicht, daß der Zug morgen in Jena Paradies hält. Doch er wird zweimal halten, einmal auf der Hinfahrt, einmal auf der Rückfahrt.

23.50 Uhr:
[Jarrett, Nagoya 1976.]
Ich hab >>>> es geschrieben, und es kommt mir auf eigenartig unbeholfene Weise vollendet vor. Was an dem verdoppelten und auch in der chronologischen Abfolge schiefen „weh“-auf-„See“-auf-„Weh“-Reim liegt. Darin findet sich aber gerade der Reiz. Daß ich mir über so was jemals Gedanken machen würde, ist schon erstaunlich. Und sowieso: daß es den tauben Schmerz so klärt. (Ratzfelix, übrigens, ist furchtbar glücklich, daß ich ihn bei alledem herausgelassen habe aus seinem engen Käfig, daß ich ihn streichle. Für mich ist es eine Ersatzhandlung, für ihn aber – Erfüllung. Was sagt uns das, Leser, über uns selbst?)

Ich vergaß zu erzählen, daß Do mich anrief: „Weißt du, wo ich bin? Ich sitze am Elefanten.“ Ich: „Du bist in C a t a n i a???!“ Und dann habe ich ihr schnell gesagt, wohin sie gehen muß, was sie sehen muß, das kaum ein Tourist je sieht. Gegen 23 Uhr von ihr eine weitere SMS: „Ich habe s o runde Füße. Aber 1000 Dank für den Tip! Fühle mich hier (unkatzenhaft gesagt) pudelwohl.“ Catania, Leser, Sizilien… ach. Es g i b t so etwas: es gibt eine fremde Heimat. Man wird dort jetzt, im beginnenden Sommer, Seeigel aufschneiden und das rohe rote Fleisch aus den Schalen löffeln. Nichts auf der Welt, außer einer Frau, schmeckt so sehr nach Geschlecht, nichts so sehr nach dem, woher wir alle stammen.

Mein Sohn, wenn Du das eines Tages liest – denn für Dich, eigentlich n u r für Dich, entsteht dieses Tagebuch; alle anderen lesen nur m i t -: vergiß es n i e, daß wir Tiere sind, wundervolle, verworfene, unglückliche, glückliche Tiere sind. Vergiß es nie. Den Geist, wenn man ihn will, gibt es gratis. Er ist so einfach. Koste von Seeigeln. Dann denk an Deinen Vater. Nicht an den im Himmel, den gibt es nicht. Aber Seeigel gibt es. Und die Frau.