Blind werden.

Ich hatte eine fast-erwachsene, ungefähr sechzehnjährige Tochter, jedenfalls war sie eine bereits reizvolle Frau. Ich war ich, doch sie war deutlich jemand, den ich nicht kenne: eine hochgewachsene schlanke Person im dreiviertellangen Kleid, geschmeidig, mit graublondem Haar, das ihr in langen Flechten zu einer Seite des Kopfes und auf den Rücken hing. Für ihre Schule war es nötig, daß ich mich um ein zweites Ei kümmerte, das, vielleicht im Biologieunterricht, ihrer Obhut anvertraut war. „Papa, du mußt das endlich tun.“
So nahm ich mir denn die Unterlagen vor, wir saßen bei Tisch, es war heiß, ich trug nichts als Unterwäsche und Shorts und, wegen des Schwitzens, ein kleines Handtuch über der linken Schulter, das mir, als ich mich vorbeugte, um den Nacken rutschte. So schaute ich und schaute, aber vor meinem rechten Auge verschwammen die Zeilen, so daß ich nervös wurde, konzentrierter starrte. Da übertrug sich die Sehschwäche auch auf das linke Auge. Hatte ich Kontaktlinsen in den Augen? Brauchte ich meine Lesebrille? Nein, meine Augen waren ohne jeden Eingriff oder Zusatz. Schlief ich vielleicht (was ich ja tat)? Nein, ich schlief n i c h t, merkte ich, sondern wurde wirklich blind. Ich fing an, mich zu winden, um irgend eine Perspektive hinzubekommen, aus der wenigstens errahnbar war, was ich mir anschauen und untersuchen sollte. Aber nichts, ich versagte, sah nur noch Schimmer Schleier Weißlichgraues. Es wurde zunehmend verzweifelt, und als ich spürte, wie entsetzt mich meine Tochter, die mit am Tisch saß, beobachtete, gab ich es endlich auf.
Wollte ablenken, wollte mit ihr und meiner Frau einen Ausflug machen. „Aber ich habe doch Schule!“ Irgend eine Abschlußfeier, stellte sich heraus. Am Sonntag, auch das war geeignet, mich schwindlig zu machen. Ich merkte, mir entglitt die Realität. Dagegen mußte ich etwas tun, wenigstens Haltung gewinnen. „Gut, dann komme ich mit.“ „Das geht nicht.“ „Wieso nicht?“ „Was soll ich den Lehrern sagen, sie verachten dich sowieso schon.“ „Mich? Verachten?“ Da wird meine Tochter böse und sagt: „Ich muß jeden Tag melden, an dem du abends weggehst von der Mama und mir! Hast du eine Ahnung, was ich deshalb alles aushalten muß! Das wird doch registriert! Das wird alles erfaßt! Die führen Listen!“ Ich erstarre schockiert. Dann schäumt mir die Wut. Da schreie ich auf. Wovon ich erwache.

[Villa Concordia Bamberg.
Nach dem Mittagsschlaf.]

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