Arbeitsjournal. Dienstag, der 1. August 2006.

7.42 Uhr:
[Berlin, Kinderwohnung.]
Bin wegen der Steuerscheiße in Berlin geblieben. Und wegen des Herzens, ganz sicher, auch. (Hierzu wäre in der zweiten Elegie etwas zu sagen: zur metaphorischen Verwendung des Wortes ‚Herz’ noch im aufgeklärtesten Geist, der ja weiß, daß sie eine Pumpe ist, die zudem trennt; die Metaphorik, zudem, legt zusammen).
Werde nachher in die Arbeitwohnung radeln, wo ich unter massiver Beschallung durch, sagen wir, Edvard Elgar (damit das Pathos der Situation auch recht Musik wird) die benötigten Unterlagen aus dem Wust der Paperstapel heraussuchen werde. Das Pathos (‚Leid’) liegt d a r i n, daß mich das Arbeitszeit kostet und eine Energie, deren Verlust ich mir nicht leisten kann. Daher der innere Widerstand. Ich habe noch immer viel Energie, viel mehr als andere, zumal meines Alters, aber Buchhaltung wirkt tief-vampirisch auf sie und macht mich sehr depressiv. Meine Kraft wird abgesaugt, zurück bleibt das ängstliche, entsetzte Kind, das ich offenbar einmal war. (Nach der – w e g e n der – Trennung meiner Eltern? – Der zu den Zeiten meiner Psychoanalyse so genannte Vierjahresblock fällt mir ein, der bis heute undurchdringlich blieb: ein tür- und fensterloses quaderförmiges Gebäude aus schwarzem Metall, von dem mir damals oft träumte: ich steh davor und komm nicht und t r a u mich auch gar nicht hinein. Es hat sich aus meinen vier ersten Lebensjahren materialisiert.)

Um fünf bin ich aufgestanden, war aber derart seltsam zerschlagen, daß ich mich nach einem Brief an die Villa Concordia, der mein Fortbleiben entschuldigt, und nach zwei Zeilen Elegie noch einmal schlafengelegt habe. Da träumte mir etwas Schönes, doch nur, daß es schön w a r, weiß ich noch, nicht mehr, was.

Von „Monsterregentropfen“ titelt die BILD heute. So las ich eben drüben im Büdchen, als ich Zigaretten holte. Und schreibt von Flüssen, die rückwärts fließen: Das ist ein Ausdruck, ist ein Bild, das unmittelbar auf mich wirkt und archetypisch von der Art, die immer sofort in meine Texte strömt, namentlich in ANDERSWELT. Etwas Biblisches klingt an, apokalyptisch Mythisches: dabei ändert sich doch lediglich das Klima, und zwar in eine Richtung, die meinem Inneren zusagt. Es wird extremer, heißer wie kälter, von beiden Seiten wird in die klimatische Mäßigung gedrückt. Rückwärtsfließende Flüsse (verdampfen sie wohl an der Quelle?) verhöhnen den Gedanken der Normalität. Ich reagiere darauf mit innerem Jubel, bin aber zugleich um die, die ich liebe und die drunter leidet, besorgt. Stelle den Lautstärkeregler meiner Begeisterung auf leise und diese selbst als einen Schild vor die Geliebte. Sie sieht nur die konkave Seite von ihm, die mild sie und aufnehmend schirmt, nicht die konvexe, die vitalistisch strahlt.

11.51 Uhr:
[Berlin Arbeitswohnung. Elgar, Erste Sinfonie.]
Elgar unter dem von mir sehr geliebten Barbirolli. Und welch ein K l a n g wieder einmal. Zuhause, letztlich, bin ich wirklich immer nur hier in der Arbeitswohnung; da ist keine Spur von Emigriertem. Wie wohltuend deshalb, versichert zu sein, daß die Miete für dieses ganze Jahr vorausbezahlt ist, zumal großteils von meinen Lesern.
Also Buchhaltung. Prompt eine Magenattacke bekommen; allein der Gedanke, daß ich mich jetzt mit Quittungen, Rechnungen usw. abgeben muß, führt zu heftigen psychomatischen Reaktionen, die ich tatsächlich nicht steuern kann. Es schlägt da ein geradezu phylogenetischer Abscheu durch, für den ich obendrein keinerlei Erklärung habe. Nur daß mir, denke ich bloß an Buchführung, kompett schlecht wird. Sie kostet mich mehr Nerven als meine prekäre existentielle Situation; tatsächlich würde ich lieber in irgend einen Krieg ziehen und mich am Leben bedrohen lassen, als mich mit derartigem abzugeben. Selbst die Gewißheit, in einem Risiko umzukommen, ist nicht so schlimm wie jetzt d a s. Dabei habe ich auch hier wieder – wie bei den Mieten – ein unwahrscheinliches Glück. Ich hatte meiner Steuerberaterin auf ihre Nachricht einen langen Brief geschrieben, daß es mir peinlich sei, sie wieder in Anspruch nehmen zu müssen, obwohl sie noch so viel Geld von mir bekomme und ich auch jetzt nicht wisse, wie ich sie und ihren Mann bezahlen solle; doch käme ich ohne ihre Hilfe aus der Situation gewiß mit heiler Haut nicht davon. Nun rief ich eben an, und die Mitarbeiterin sagt mir: „Selbstverständlich helfen wir Ihnen, das ist für uns gar keine Frage.“- Immer wieder meine Erfahrung: Es sind F r e u n d e, ja nicht selten nur lockere Bekannte, die helfen; es ist NIEMALS die eigene Familie, es ist sie niemals gewesen. (Nur meine seit langem verstorbene Großmutter war während meiner Kindheit und Jugend eine Ausnahme; dennoch – oder deshalb? – bin ich weder zu ihrer Beerdigung gefahren, noch habe ich bis heute ihr Grab besucht, von dem ich nicht einmal weiß, wo es ausgehoben worden ist und ob es überhaupt noch existiert. Do sagte einmal: „Du verdrängst aktiv ihren Tod.“)
Vielleicht bin ich deshalb so gerne Vater geworden, vielleicht wünsche ich mir deshalb so sehr meine eigene Familie zurück mit zumal noch mehr Kindern. Trotz meines Berufes, der rein seiner mangelnden Sicherheiten wegen so etwas gar nicht erlaubt. Und liebe eine Frau, die w i r k l i c h Mutter ist, liebte sie schon, als sie’s noch gar nicht war. Es ist, als ob mein I n s t i n k t mich habe sagen lassen: JA. Bis heute sagt er nichts anderes. Auch wenn sich mein Verstand immer wieder am emanzipierten, leistungsbezogenen, machtvoll-autonomen Character meiner Karriere-Mutter orientiert.
Ich würde übrigens, das wurde mir letzte Woche klar, für meine eigene Familie sogar diese Arbeitswohnung aufgeben – meinen letzten Schutzraum. Und freue mich darauf, hier geborgen gleich meinen Mittagsschlaf zu halten. (Musik hören, etwas weinen und dann an diesen Buchhaltungsscheiß. Hab mir zur Beruhigung des Magens einen Kamillentee bereitet. Die PAVONI meide ich heut besser.)

16.33 Uhr:
Zurück in der Kinderwohnung. Diesmal gab es drüben k e i n e n freien WLan-Zugang zum Netz. Gehört, geschlafen, die Steuer-Unterlagen zusammengesucht (ich hab nicht den Eindruck, daß es alle seien, aber ich finde nicht mehr), über der zweiten Elegie weitergebrütet.
Sowas nach 22 Uhr werd ich den Profi treffen, wieder einmal in der Bar.

1.33 Uhr:
[Berlin Kinderwohnung.]
G u t e r Abend. Erst wundervoll privat, dann halbprivat mit dem Profi. „Warte ab“, sagt er ruhig, als es um meine Ästhetik geht, besonders ums Umstrittene, „was man in fünf Jahren sagen wird.“ Ich meinerseits denke, na gut, es werden zehn, vielleicht noch fünfzehn Jahre sein. Das wäre dann a u c h völlig in Ordnung. Dann wird mein Junge einundzwanzig sein. Sehr vieles dessen, das mich beschäftigt, hat mit ihm zu tun: Was wird man ihm sagen, wer sein Vater w a r (oder dann vielleicht noch ist)? Das Gleiche für weitere Kinder. Etwas hinterlassen – wie mich das beschäftigt! (Wie das auch in den Elegien steht! – >>>> parallalie hat völlig recht.)

Prunier hat sich gemeldet und die französische Übersetzung des >>>> Gräfenberg-Clubs geschickt. Ich hab sie, wie er es wünschte, an Delf Schmidt weitergeleitet, der sie sich anschauen möchte. Auch Norbert Wehr vom >>>> SCHREIBHEFT hat sich gemeldet und Interesse gezeigt, an ARGO. Wiederum Johann Tammen von den >>>> HOREN plant weiterhin ein Sonderheft zum ANDERSWELT-Projekt: einen… ja, so muß ich das schreiben, ‚absoluten’ Materialienband zu diesen Romanen; projektierter Erscheinungszeitraum: Ende 2007/Frühjahr 2008. Es geht voran, Steuer hin, Steuer her.

(Und dieses gute Gefühl, nachts mit dem Rad durchs Brandenburger Tor zu fahren. Durch leichtes Regnen. Die Muskeln zu fühlen. Zu Berlin zu gehören.)

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