B.L.’s 7.9. – in der Teufe

17:24
Ich, O, ich sir, ich is,
Ich bin drei Teile, lehre mich
das Lesen.
Wir sagen Das bin ich.
Ich schenke dir den Schlüssel
damit du sagst
Ich.

Daniil CHARMS

Der Morgen verlief etwas weinbrummschädlig. Das Arbeiten ging auch nicht gut von der Hand. Stattdessen klapperte ich mit dem gestern gefundenen Schlüssel in der Gedankentasche. Sollte ich nun tatsächlich diesseits der Welt angekommen sein, bloß weil ich begriff, daß das wohl kein Vergnügen gewesen sein muß für meinen Vater, mich schreienden (?) Balg auf dem Hals zu haben? Verstanden hat er mich ja sowieso nie. Immer gab es eine Distanz. Aber wohl auch, weil ich so wurde, wie ich war. Trotz Faulheit hatte ich nie Schwierigkeiten mit der Schule. Er muß sein Leben als Scham erlitten haben. Seine Hauptbewunderung galt seinem älteren Bruder, oder besser: Er war ihm etwas wie Vorbild und Zugehöriges. Schließlich waren beide 1945, als sie praktisch Waisen wurden, 12 bzw. 14 Jahre alt. Darüber wurde nie erzählt. Als der Ältere erbte natürlich sein Bruder den Hof. Scham, die sich wahrscheinlich auf mich übertrug: Die Verhältnisse, in denen wir bis Mitte der sechziger Jahre lebten, waren doch etwas ärmlich: Plumpsklo und kein fließendes Wasser. Aber das war’s im Grunde nicht, schließlich lebten die Verwandten in der „Ostzone“ nicht viel anders. Die Scham drückte sich anders aus. Wie eine uneingestandene Schuld, bei der man auf Schritt und Tritt ertappt werden kann. Ich weiß auch nicht, welche Rolle die Frau spielte, die er vor meiner Mutter hatte eigentlich heiraten sollen (die Tochter des Dorfmüllers): sie aber überlebte dann einen Autounfall nicht. Wie meine Mutter selbst, später, als ich selbst neunzehn war, wie sie, als sie mich gebar. Da war dann die Familie für mich praktisch zu Ende.
Vor allem habe ich – glaube ich – den Schlüssel für mein allgemeines und schon immer gezeigtes Verhalten: Es allen recht tun zu wollen. Um eben Konflikte zu vermeiden, weil es damals wahrscheinlich eh schon genug davon gab. Mit diesem Verhalten komme ich aber seit einiger Zeit nicht mehr klar: Und daraus ergibt sich diese große Ehe-Unlust. Ich mag es niemandem mehr recht machen, nur um des lieben Friedens willen. Merkwürdige Rebellion eines 52jährigen! Sehr merkwürdig!
Ebenfalls merkwürdig in diesem Zusammenhang: Ich kannte ja alle diese Zusammenhänge, nur hat die Psyche das immer so geschickt darzustellen verstanden, daß nie wirklich ein Zusammenhang offenbart wurde. Derjenige nämlich, daß ich ein Irrtum gewesen bin. Ich habe beschlossen, ab sofort als Irrtum zu leben und alles, was ich schreibe, als Irrtum zu betrachten. Ebenso war es ein Irrtum, hier zu schreiben. Aufzuhören, wäre ebenfalls ein Irrtum. „Eppur si sbaglia“ – Gutes Motto, das!

Ich nehme den Schlüssel, wann, wie uns unsere Großmütter sagten, finde ich die Blume Farn, die nur einmal im Jahr blüht, in der Nacht vor Ivan Kupalo.
Aber wo wächst diese Blume? Sie wächst im Wald unter einem Baum, der auf dem Kopf steht.
Du gehst durch den großen schlafenden Wald, findest aber keinen einzigen Baum, der auf dem Kopf stehend gewachsen wäre. Dann suche dir den schönsten Baum aus und klettere auf ihn hinauf. Befestige dort das eine Ende des Stricks an einem Ast, das andere Ende an deinen Beinen. Spring dann von dem Baum, und du wirst mit dem Kopf nach unten hängen und meinen, der Baum stünde auf dem Kopf.
Wenn du in den Wald gehst, schau vorher zum Fenster hinaus, wie das Wetter ist.
Ich schaue zum Fenster hinaus und sehe, dort beginnt die Straße, dort beginnt das freie Feld, dort steht ein Baum.
Die Himmel drehen sich um und fallen auf die Erde, Erde und Wasser fliegen auf in den Himmel, die ganze Welt steht auf dem Kopf.
Wenn du das alles siehst, dann entdeckt sich dir, dann erblüht in deiner Brust die Blume.
Ich sage: das ist das Ende der alten Welt, denn ich habe eine neue Welt gesehen.

Daniil CHARMS, Fortsetzung des Obigen

2 thoughts on “B.L.’s 7.9. – in der Teufe

  1. Schade Das keiner in diesem Land so einen Witz hat wie ihn die russischen Dichter besitzen, in Deutschland ist alles so furchtbar eng, so ernst, so grimmig und wenn man einmal die Beine hochstreckt heißt es gleich,, meine Güte wie bei Charns..

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