Wilhelm Meister (1). Aus einem Briefwechsel. Vaterliebe, gespiegelt in der Liebe der Geschlechter.

Liebe I.,
alles für die anderen letztlich Ungeheure, das wir miteinander aufnehmen und aneinander suchen und das sich in unserer instinktiven Liebe zueinander bereits in einer Zeit begab, da uns die erotische Obsession aufeinanderlegte, in der sich genau das v e r s t e c k t e, findet seinen Grund wohl d a r i n: – unsere Kindern nicht einen Schmerz erfahren zu lassen, wie ihn uns die eigenen Eltern gemütlos zugefügt haben. Gerade unsere Liebe über alle Widerstände und Zumutungen hinweg, die wir e i n a n d e r zugefügt haben und zufügen, ist letztlich womöglich als der Garant dafür wirksam, daß unsere Kinder nicht eines Tages selbst ihr lebendiges und warmes Grundgefühl elternschuldhaft verloren haben werden. Man kann einerseits sagen, es seien diese unsere ‚Zumutungen aneinander’ erwachsene (= verschobene) Reflexe eben d e r emotionalen Verluste, die wir selber tragen, also letztlich psychische Verarbeitungsformen, die sich in der Partnerschaft realisieren; wie andererseits, daß genau das den Kindern die Chance gibt, später einmal nicht ebenso ‚verschoben’ agieren zu müssen. Sondern ‚heil’ zu sein. Je mehr wir davon wissen, uns also bewußt machen, desto wirksamer wird der Schutz, wird die Behütung, in der unsere Kinder aufwachsen. Unsere Liebe selbst – die zueinander – wird durch solch eine Erkenntnis nicht geringer, sondern reifer. Ja, sie wird geradezu gehoben und begründet im natürlichen Kreislauf von Reproduktion und Brutschutz. So daß das ‚Romantische’, für das wir sicher für manchen stehen, der uns betrachtet und darüber bürgerlich-pragmatisch den Kopf schütteln mag, direkt an die natürliche Arterhaltung anschließt, und zwar nicht nur als Dynamik der genetischen Reproduktion, sondern darüber hinaus als etwas, das unser kulturelles Erbe mit einschließt und ausschöpft und weitergibt. Wir nehmen sozusagen an unseren eigenen Kindern die Verbrechen unserer Eltern zurück. Wir formen die Verbrechen unserer Eltern um, schaffen Heil aus Unheil. Sofern wir unsere gegenseitigen Zumutungen aushalten und diese Liebe zueinander nicht verlieren.
Ich bin mir, I., klar darüber, daß von „’Verbrechen’ unserer Eltern an ihren Kindern“ nur in eingeschränktem Sinn, also insofern gesprochen werden kann, als unsere Eltern selbst bloß Geworfene und sie Prozessen ausgesetzt waren, denen sie unbewußt – das heißt: unreif – folgten: ihnen sind ihre Kinder zu Objekten geworden, an denen sie eigene Traumata ausagierten. Wir hingegen wurden e i n a n d e r zu solchen Objekten. Genau das schützt nun unsere Kinder. Sofern wir vor dieser Dynamik nicht die Augen verschließen.
Dies ist ein seltsamer Liebesbrief, ich weiß. Doch ist es einer. Es steht darin vielleicht >>>> die tiefste Liebeserklärung eines Mann an eine Frau überhaupt.

[Geschlechterliebe/Elternliebe.
Wilhelm Meister (1).]

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