Die Wiederentdeckung Berlins. Novemberregen. (Entwurf).

Klitsch an den Steigen Gruben
Kräne himmelweit darüber in die
Wolkenschwere. Wannen voller Bau.
Zementmisch Latten hohes Drahtgespan,
jeder Schritt ist vertraut mit dem Werden
unvertrauter riesiger Pfützen und einem Schlamm,
in dem das Morgen voranwühlt und ein Wille
aus Regen, Hoffnung und Besuchern, deren
aufgespannte tropfende Schirme stechen
ins Aug’ dem umgegrabenen Preußen,
dem hinter linden musealen Kastanien
architektisch gespreizten, die ihre Blätter
in den nassen Umbau zum Winter verlieren
und ins fehlende Frühjahr. An dem baut jeder hier
herum; auch wer nur sitzt, auch wer nur schaut:
das Becherchen vor sich und hinter sich,
aus Ruinen, lustige Kindheit auferstanden
für den Rückbau; Blicke, die durch poröse
Ebenen irren, rutschen am Glas aus,
das, ebenso rührend, verliert; es rutscht
in die graue Masse der Spree. Ein Fluß, der
um Inseln nicht fließt, die Inseln nicht sind.
Eine Hauptstadt, die es nie war; metropole Provinz,
in deren fetten Klecksen von Ketchup Wurst ohne Pelle
erstickt wie alter Männer Schwänze, die ein schlaffes
Erbarmen in Scheiben geschnitten und mit Curry bestäubt hat.
Darüber rattern am neuen Bodemuseum die Bahnen,
allerletzte Bücher, darunter, werden verkauft, die wellen feucht ihren Einband.
Ihr Schimmeln hält an dem, was ihnen lange vorbei ist,
unter fädenpissenden Plastemarkisen querköpfig fest.
So ist hier jedes. Selbst das Elend will bleiben.
Und was werden wird, ging ebenfalls längst.
Futur II der Palast, eingerüstet ein Reiter ins Denkmal.
Rostende Löwen meditieren wie Sphingen nach Osten;
in ihrer rechten Pranke kaltgewordenen coffee to go,
schal nach dünnem Ölfilm schmeckend,
sind sie es alle müde geworden, sich den Regen,
den unentwegten, aus ihren klammen Mähnen zu schütteln.
Klamm ist mein Mantel, klamm ist der Schal,
und Rastalocken starren vor Schmutz.
Wem sein Fuß etwas wert ist, trägt auf der Seele
Gamaschen aus Traum und aus Trauer unter den Linden dahin.

Wem sein Fuß etwas wert ist, trägt von Traum und
Trauer nasse Gamaschen unter den Linden dahin.

3 thoughts on “Die Wiederentdeckung Berlins. Novemberregen. (Entwurf).

  1. …eine wahrhaft kapitale Ruinenlandschaft!

    Nachtrag: 16:40

    Bemerkenswert übrigens die Lektüreerfahrung Ihres Textes…
    wie vermeintlich Vertrautes das Fremde affiziert und dessen Vermeintlichkeit billigen Vorschub leistet
    ( Sprachen Sie nicht in einem anderen Zusammenhang von ‘Netz-Missverständnissen…? Nun, es gibt wohl erst recht ‘Poesie-Missverständnisse….

    Die ‘Wannen voller Bau’ haben mich an eines meiner ersten Lyrikerlebnisse erinnert:
    ‘Ostia antica’ von Ingeborg Bachmann..Dort ist zwar weniger von ‘Wannen voll Bau’ die Rede, als von ‘Treppen fort ins Blau’, aber diese – noch nicht einmal phonetisch zwingende Parallele – hat mich Ihren Text als Beschreibung einer archäologischen Stätte lesen lassen, als Ausgrabung einer Ausgrabung…

    1. Das finde ich eine g u t e, dem Gedicht angemessene Assoziation. Wobei Archäologen nicht nur ausgraben, was gestorben ist. Das “Ruinige” an Berlin ist in all der gerade winters um sich greifenden Härte a u c h etwas, aus dem sich tatsächlich Neues aufbaut. Das macht diese Stadt für mich innerhalb Deutschlands zur einzigen, in der es sich mit Blick auf Zukunft leben läßt. Es ist enormer P l a t z da, und solche mißlungenen Entwürfe wie der Potsdamer Platz (an dem ich das Sony-Center allerdings liebe) werden einfach von der Stadt geschluckt. Zugleich ist Berlin ein stadtgewordener Darwinismus: pure Evolution. Auch das gefällt mir. Alles mögliche wird ausprobiert, verschwindet wieder oder beharrt in aberneuen Formen – vom underground, über den mainstream, die BDSM-Szene, Kaninchenzüchter (ihr nicht unähnlich), Hight Tech, Hochkultur. “Die Wiederentdeckung Berlins” wird bestimmt nicht der letzte Text gewesen sein, der diesem Moloch gewidmet ist. Und so ruinös erzählt ist, w a s erzählt ist, ist es doch mit Liebe erzählt. Sonst schriebe man erst gar nicht solch ein Gedicht.

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