Arbeitsjournal. Sonnabend, der 11. November 2006. Aldersbach. Berlin.

6.39 Uhr:
[Kloster Aldersbach, Zimmer. Britten, Erste Suite für Cello solo.]

Guten Morgen, allerseits. Ich hab eine Menge Fotografien gemacht, von denen ich heute abend ein paar einstelle, auch ins >>>> Arbeitsjournal von gestern; es gibt hier keinen freien Internetzugang, und ich habe ihn übers Mobilchen geöffnet, das aber eine zu langsame Verbindung herstellt, um Bilder hochladen und dann einstellen zu können. Das werd ich also alles nachholen in Berlin.Die mir von G. angekündigten „Zellen“ sind weite, kleingewölbige Zellen mit großem Bett, einem kleinen Schreibtisch und einem bescheidenen, doch gut ausgestatteten Bad; das ist wirklich schön. Dennoch, da ich hier nicht rauchen darf und es weit und breit so früh keinen Kaffee gibt, bin ich eben bis kurz nach sechs im Bett geblieben und notiere eben nur dies hier, schau vielleicht noch mal die zwölfte Elegie an; im übrigen lese ich etwas durch die Duineser Elegien hindurch; und dann werd ich duschen, die Co-Direktorin wecken, die ihren Wecker vergessen hat, und frühstück. Um 9.28 Uhr werd ich dann bereits im Zug sitzen für die diesmal lange Fahrt nach Berlin, wo ich gegen 17 Uhr eintreffen werde. Ich hoffe, es gibt einen Stromanschluß dort, damit weitergearbeitet werden kann. Der Akku meines Laptops hält etwa 3 ½ Stunden.

Zur Lesung:
Zwischen vierzig und fünfzig Besucher waren da, immerhin, quer aus dem niederbayerischen Umkreis. Sehr sehr freundlicher Empfang, hinterher gab’s ein Essen und dann, tja, im Bräustübl, bayerisches musikalisches Volksgut. Interessanterweise waren in dem Lokal ältere und jüngere Leute völlig gemischt… nicht d a s ist interessant, sondern daß das bei dieser Musikart so ist. In Berlin wäre das undenkbar. Und die Musik paßte auch, ich trank eine Maß; dieses weiche Bier süffelt sich, ohne daß man eigentlich etwas vom Alkohol merkt.
Ich las aus dem >>>> Sizilienbuch die Szene in den Kapuzinerkatakomben Palermos, ich las den ersten Auftritt Cianes in Catania. Links vor mir saßen gleich in der ersten Reihe zwei Priester, skeptischen Hauptes, da es so sehr um den Katholizismus, um Heiligenrituale und heidnische Rituale ging; zweidrei Stellen ließ ich der beiden wegen aus; ich m u ß ja nicht, wenn jemand konkret dabeisitzt, von einem „Hohepriester“ schreiben, einem – so im Buch die Formulierung – „kleinen, impotenten, verknorpelten Mann in schweren Frauengewändern“; es wär rein unnötig gewesen und hätte etwas von Beleidigung gehabt. Es reichte schon, daß ich von der Monstranz Agathas als von einer Götzin spreche, und daß die Betzettelchen, die aus Catanias Fenstern geworfen wurden, als „narkotisierte Gottesanbeterinnen“ bezeichnet werden, war sicher Tobak genug. Zumal ich in der zehnten Elegie, die ich anfangs vortrug, Allerheiligen an Samhain rückbinde und das auch vor dem Vortrag erklärte. – Ob die zwei hübschen Buchhändlerinnen, die mit viel viel Büchern eigens aus Passau angereist waren, allerdings auch nur den geringsten Umsatz hatten, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich hatte eher den Eindruck, es sei g a r nichts verkauft worden; jedenfalls kam niemand, um sich ein Autogramm geben zu lassen.
Gewirkt haben übrigens b e i d e Texte, sowohl Sizilien als auch die Elegie. Nach meinen Innsbrucker Erfahrungen, wo es einige Kritik gab, war ich deshalb, und bin’s noch, reichlich zufrieden. Rilke übrigens, ich hab das jetzt noch mal durchgeguckt, gibt sich beim Versmaß jede Freiheit und mischt munter Hexa- mit Pentameter, und sogar Vierfüßer mengt er mit hinein; außerdem sieht er die betonten Anfangssilbe kaum genau; jedenfalls läßt er unbetonte Artikel und Vorsilben zu. Die Elegien selber fallen sogar nach Kapitelchen auseinander; d a s werde ich bei den Bamberger Elegien n i c h t wollen, schon, damit es beim Fluß bleibt.
So, Leser, jetzt stell ich das hier ein und mach mich mal frisch. Wahrscheinlich aus dem Zug dann mehr, bzw. wird das Elegienzeit sein. Mal sehen, was bis zu meiner Ankunft in Berlin geschafft sein wird. Dieses ist übrigens der 10.002te Eintrag in Der Dschungel.

11.44 Uhr:
[ICE Nürnberg-Göttingen.]
Bis eben mit >>>> Marion Poschmann, deren Gedichte >>>> „Grund zu Schafen“ übrigens, das vergaß ich zu erzählen, ganz ausgezeichnet sind… also mit ihr geplaudert, von Vilshofen in der RB nach Plattling, von Plattling im IC nach Nürnberg; dort trennten sich dann unsere Geleise. Sie fährt nach Essen, ich fahr bis Göttingen weiter, wo ich um 13.55 Uhr ankommen und in den Berliner ICE umsteigen werde. Interessant und gut-bestätigend, daß auch bei Poschmann die Elegie sehr haftengeblieben ist; es gib insgesamt sehr viel mehr Zustimmung, als ich geglaubt hätte. Hab aber leider gerade gemerkt, daß mir offensichtlich mein Taschenzerstäuber mit der unterwegs-Ration Patou pour homme aus der Hosentasche gerutscht zu sein und nun verloren scheint. Schad. Aber vielleicht passierte es bei Frau W., die uns zum Bahnhof brachte, im Auto. Gut, der Schaden ist, falls nicht, materiell nicht sehr groß und läßt sich schnell ersetzen.
Ich werd jetzt an die zwölfte Elegie gehen; Stromanschluß ist da, und wenn der Zug ab Göttingen keinen mehr haben sollte, wird der Akku reichen.

Oh ja, d a s ist noch zu erzählen:
Ganz offenbar habe ich gestern abend genau angemessene Textstellen aus dem Sizilienbuch gelesen, denn heute früh, als ich vor dem Frühstück noch in die Asamkirche ging, um eine Opferkerze zu entzünden und mich umzusehen, fand ich drei Skelette in Reliquiensärgen ausgestellt; das Weibchen heißt Carla, und ihr Gebein ist mit Edelsteinen geschmückt und trägt – wie ein Weihnachtsbaum Lametta, freilich sehr dezent als Hoffnungsschimmern darin – Blattgold an den Knochen. Ich erkundigte mich beim Frühstück nach der Geschichte dieser Toten: sie sind aus den römischen Katakomben hergebracht, und es geht die Legende, es handle sich um Opfer der antiken Christenverfolgung; bei zweien von ihnen ist man sich sicher, beim dritten nicht. Immerhin hat jetzt der skeptische Blick des Priesters während meiner ganzen Lesung eine geradezu materiale Begründung gefunden.22.13 Uhr:
[Berlin, Kinderwohnung Küchentisch.]
Mit der Familie gewesen, die nun zu Bett ist, und ich werd gleich noch den Profi treffen. S e h r weitergekommen in den ICEs mit der zwölften Elegie; es gab einige knifflige Stellen, aber ich bin jetzt zu müd, um das abzuprüfen. Ohnedies soll das Ding, das wohl wieder ein längeres wird, erst einmal als Rohling dastehen.
Mag grad nicht mehr schreiben.

5 thoughts on “Arbeitsjournal. Sonnabend, der 11. November 2006. Aldersbach. Berlin.

  1. Eine kleine Nachfrage Lieber Alban,
    ist meine E-Mail eigentlich bei Dir angekommen, die mit der überarbeiteten Geschichte?
    Würde mich freuen, wenn Du antwortest.
    Liebe Grüße Frederike Popp (Junges Literaturforum)

  2. Bamberg and Aldersbach greetings Dear Alban,

    Britten als Morgenmusik, wie schön, wohl in einer Aufnahme des Widmungsträgers.
    Im Elch-Mercedes fand sich ein (Dein?) Bic-Feuerzeug, in blue, was mich sofort an den Wolpertinger denken ließ.
    Und, ja, doch, die wahrlich hübschen Händlerinnen (Händler, auch der wäre wohl noch zu lesen, in diesem Herbst) haben einiges verkauft, zumindest eine Eine Sizilische Reise, die dann, as you know, prompt zum Sakko-Taschen-Buch geworden. Vergaß leider, um ein Autorgramm zu bitten, was ja selbst im Braustüble, das Bier so leicht, noch möglich gewesen wäre.
    Die Lesung – sehr gelungen fand ich die „Elegie“ – wird Folgen haben, hat sie bereits: neben Herbst-Lektüre (hatte mir schon am Freitag bei Collibri den Arndt-Komplex zugelegt, den ich beim Baden bei Gewitter lesen will) auch mehr Rilke, wohl Cowper Powys auch und womöglich Helmut Krausser. Heißt nicht der UC-Protagonist Alban?
    Und Bruckner hören, Mahler sowieso, und heute abend Hans Werner Henze: das zweite Rezital der Gitarrentage, mit der Royal Winter Music.

    Dorthin muß ich mich nun aufmachen.
    See you Tuesday: Will we hear the mermaids singing?

    Ach, die Pound-Übersetzung interessierte mich sehr.
    Und die Palermo-CD nicht minder.

    Schöne Stunden in Berlin.
    Take care,
    Jürgen G.

  3. hallo prufrockbam, das ist eine schöne verwechslung: der held in kraussers “melodien” heißt alban, in “uc” heißt er arndt. aber wie auch immer: diese beiden romane sollte man nicht verpassen…

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