Arbeitsjournal. Sonnabend, der 18. November 2006.

4.40 Uhr:
[Villa Concordia Bamberg.]
Es regnet, hoffentlich bleibt das nicht so, des Jungen wegen, der doch hier draußen herumstromern wollte. Andererseits, er hat ja Gummistiefel da…
Mich überfiel, als wir gestern abend gegen neun Uhr einen sehr schönen, fantastischen Kinder- und Jugendfilm sahen, mit hochpsychotischen Bildern dabei, nahezu einer Entsprechung der psychischen Innenwelten von Carrolls Alice in Wonderland, >>>> Mirrormask nämlich, aus dem Jahr 2005 (ich werde, wenn ich ihn ganz gesehen habe, hier sicher darüber schreiben)… überfiel mich also unvermittelt bereits gegen zehn Uhr eine solche Müdigkeit, daß ich zu dem Jungen sagte: „Du, sei nicht böse, laß uns morgen weitersehen, ich kann nicht mehr, mir fallen die Augen zu.“ Ein wenig enttäuscht war er schon, aber allein weitersehen, was ich ihm anbot, mochte er nicht, und so schliefen wir, irgendwie ineinandergeknäult, denn ein. Und ich hatte einen Angsttraum:
Ich hab eine Lesung, der Ort erinnerte an den Lesungsort vom vorletzten Freitag im Kloster Aldersbach, und wie dort las ich aus den Elegien. Übrigens einen anderen Text, als ich ihn tatsächlich schrieb, er läuft dreifüßig aus, nicht als Hexameter, er verrinnt nahezu, ein morendo liegt über allem. Seltsam war – aber ich war so im Vortrag, daß ich das nur halb realisierte und es mich während des Vortrags auch gar nicht störte -, daß das Publikum mit dem Rücken zu mir saß; ich las von hinter ihnen in die Leute hinein. Es gab keinerlei Regung, das Gedicht ging wie die Regnitz unaufhaltsam strömend dahin, endete dann aber eben versickernd. Schweigen. Kein Applaus. Dann steht vorn jemand auf, ein Dr. Nochwas, klein, studienrätig, etwas grau in der Gesichtshaut, spricht das Publikum kann: „Wir haben jetzt etwas gehört, von dem ich meine, sagen zu können, daß es n i c h t so gelungen ist.“ Und er weist auf die nächsten Veranstaltungen hin. Ich bleibe da hinten sitzen, immer noch dreht sich niemand um, es ist, als wär ich gar nicht da. Da steh ich langsam auf, gehe nach vorne, spreche den Doktor Nochwas an, und in ganz leisen, aber allen vernehmlichen Worten sage ich etwas über Kunst und Kunstunverstand, bin auf sehr stille Weise hochaggressiv. Darauf reagieren Publikum und Dr. Nochwas, indem sie weiterhin nicht auf mich reagieren, sozusagen durch mich hindurchsehen. Es gibt keinerlei Kommunikation… doch, solch ein abfälliges Lächeln des Dr. Nochwasses. Ah, mir fällt ein: die Lesung sollte mitgeschnitten werden, vom Hessischen Rundfunk, aber die Journalistin war ebenfalls nicht erschienen, außerdem, ja, fällt mir jetzt außerdem ein, sollte die Lesung live um zehn Uhr morgens übertragen werden, tatsächlich fand sie aber bereits um neun Uhr statt, jetzt ist es halb zehn… und ich mache mich auf, in den Räumlichkeiten des Klosters diese Journalistin zu finden. Verirre mich in Gängen, der Wecker klingelt, es ist halb fünf Uhr morgens, mein Junge schläft ‚falsch herum’, hat sich um 180 Grad gedreht, seine Füßchen mir im Gesicht, das Kerlchen ganz ausgestreckt, die Arme im Dreieck zum seitlich liegenden Kopf, der geschlossener Lider tief schlafend zu den hohen Scheiben und also zu Terrasse, Garten und Regnitz hinausblickt.Nebenvor mir liegen Camille Paglias „Sexualität und Gewalt oder: Natur und Kunst“, das ich wiederlesen will, schon weil es sehr exakte Gegenargumente zu einigen meiner Haltungen formuliert wie Einwände, die ich in meinem inneren, poetischen Heidentum dringend mitbedenken muß, sowie zwei Exemplare >>>> THETIS: mein Handexemplar, voller Striche für Lesungen, sowie ein zweites, noch verschweißtes, weil ich den Impuls habe, ein ganz frisches Buch wiederzulesen für die ARGO-Überarbeitung, ein von meinen Gedanken unberührtes, das Distanz herstellt. Wiederum wäre es – aus Dschungelsicht – praktischer, überhaupt nur am Bildschirm zu lesen; dann lassen sich Zitate schneller herauskopieren und kommentieren, wenn ich das in Die Dschungel einstellen will.

Einen >>>> Arbeitsfortschritt kann ich für gestern nicht formulieren. Aber vielleicht gehört die >>>> „Vaterarbeit“ dennoch dazu.

6.51 Uhr:
Erst einmal die offenen Kommentare ‚abgearbeitet’. Das Ganze nimmt immer deutlicher den Character eines Lebens-Credos an. Und vielleicht ist >>>> diese Begriffsklärung – der Versuch einer Begriffsklärung -, gerade auch für mich selber, sehr nötig. Wobei mich die letzten drei Sätze >>>> dort eben selbst überrascht haben, so einverstanden kamen sie aus mir heraus.

9.26 Uhr:
[Jarrett, Sun Bear, Osaka 1976.]19.34 Uhr:
[Jarrett, München 1981.]
Noch hab ich mit der >>>> THETIS-Lektüre nicht begonnen, sondern, so sehr zog es mich ihm zu, noch einmal >>>> diesen gandiosen Camille-Paglia-Essay gelesen, der mir, wenngleich mir vieles darin absolut nicht in den poetischen Kram paßt, enorm nah ist. Ich lese die Arbeiten dieser Frau nahezu berauscht – und habe einige Exzerpte, zu denen ich schriftlich Stellung nehmen will. Erst aber einmal dies:Nämlich sind Sohn & Vater, beide, völlig in Maronen-Orgien verstrickbar, futternd, ‚hm’-sagend, seufzend, sich ansehend, völlend-begeistert. Es fängt grad aus der Pfanne an zu duften.

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