Buchmesse Leipzig, Zweiter Tag. Arbeitsjournal. Sonnabend, der 24. März 2007.

5.03 Uhr:
[Berlin, Küchentisch.]
Hatte kurz überlegt, ob nicht erst den 9.03er ICE (Südkreuz) nach Leipzig nehmen, der einen die Messe erst 10.28 Uhr erreichen läßt – die Züge zwischen 6.40 Uhr (Südkreuz) und diesem 9.03er sind seltsame, für die eine Bahncard100 nicht gilt – behauptet http://www.bahn.de; und ich mag mit dem Geschleppe dieses Risiko nicht nehmen. Aber sowieso hat, als der Wecker klingelte, in mir der Preusse gesiegt. Weshalb ich nun d o c h früher fahre und mich dann halt abermals zur Überbrückung in die Leipziger DB-Lounge setzen werde. Ich will einfach, daß VOLLTEXT/MEERE pünktlich um 10 Uhr wieder ausliegt. Auch wenn der Tag, wegen des Besuchs beim >>>> Laptop-Mäzen in Dresden, gewiß ein s e h r langer werden wird. Nun sind etwa die Frankfurter Buchmessen ohnehin Tage, an denen die Schlafzeiten jeden Tag um eine Stunde abnehmen, allerdings nachts, bis man eigentlich g a r nicht mehr schläft. Insofern ist das schon okay, sich auch für Leipzig ein wenig zu strapazieren.
Guten Morgen.

Eine der nettsten Termine heute wird >>>> d e r sein.

6.30 Uhr:
[Berlin Gesundbrunnen.]

MEERE tragen.
6.45 Uhr:
[ICE Berlin-Leipzig. Platz op.111.]
Diese anderen Verbindungen, die ich heute morgen nach Leipzig fand, müssen in der Tat gesondert bezahlt werden; es sind Züge anderer Unternehmen – was einen eigenartig anmutet, der nahezu vier Jahrzehnte lang an ein staatliches Bahnmonopol gewöhnt ist. Weiters-in-der-Tat ist >>>> dieses andere Unternehmen aber um die Hälfte weniger teuer als die Deutsche Bahn. Für mich rentiert sich diese andere Verbindung nur wegen meiner Bahncard100 nicht.
Gescheppt, geschleppt, geschleppt. Nunmehr nahezu 250 Exemplare MEERE bei Volltext, also gewichtsbezüglich auf gestern noch mal ein Drittel draufgelegt. Der Körper macht‘s. Das ist jedesmal eine kleine Erfüllung. (Rief gestern eine Frau leise aus, die mir auf der Messe die Hand gab: „Meine Güte, das sind doch nicht die Hände eines Schriftstellers! Das sind Arbeiterhände!“ Ich: „Männer müssen t r a g e n können.“ – Effiminierten Männerhänden bringe ich, ich geb‘s zu, Mißtrauen entgegen. D a z u wie auch zu MEERE paßt, was ich eben in der BILDZEITUNGs-Headline las -fast hätt ich mir das Revolverblättchen gekauft — aber mein seit siebendreißig Jahren bestehendes (Vor-)Urteil ließ das nicht zu —- es wär das erste Mal überhaupt in meinem Leben, daß ich diese Zeitung kaufte —– aber vielleicht s p r i n g ich mal, nachher in Leipzig, über diesen Schatten —— es ist einfach z u schön ——- also ——– die wunderschöne Angelina Jolie ——— (sinngemäß) ———- ‚gesteht‘:
Ich liebte schon mit 14 SM.
und
Ich möchte gerne Blut trinken.

Welcher Mann, der‘s i s t, krempelte da nicht den Ärmel auf oder reichte die Halsbeuge und sagte: „Dann trink!“?
Also das hat mir diesen sowieso schon schönen Morgen, in den ich derart flanierend hineinparliere, so noch recht von Hoden weiter verschönt. Und mit dieser Vorbemerkung nun zum ernsthaften Teil der Erzähling, dem
WAS GESTERN NOCH GESCHAH:

Die 150 Volltext-MEERE waren am Abend weg. Und dauernd werd ich angesprochen, Leute gratulieren, von denen man sich gewünscht hätte, sie hätten, als das Buchverbot ausgesprochen worden war, wenigstens seelisch Hilfe angeboten… aber damals schwiegen sie und warteten dann vier Jahre lang wie positionslos ab. Nun hab ich ein Loch durch den verkrusteten Boden gegraben, Licht fällt hinein, und nicht nur die MEERE quellen heraus, sondern auch diese Leute… als wären s i e eingesperrt gewesen und hätten nicht doch allezeit draußen an der frischen Luft gestanden. Einige andere – etwa mein geliebter Lektor Delf Schmidt – haben von allem nichts mitbekommen und verstehen erst gar nicht, wenn sie die Zeitung erstmals sehen… wieder andere sagen: „Wie? Das ist ein ganzes B u c h?“ und blättern sich desorientiert durch die Bleiwüsten, den Blei-Dschungel, den Volltext unter Mißachtung jeglicher Gebräuchlichkeit da vorgelegt hat. Nur >>>> Judith Kuckart, die ich mit Delf Schmidt nachts am Leipziger Bahnsteig traf und mit denen ich dann bis Berlin-Südkreuz zurückfuhr, sah die Zeitung mit ihrem Lächeln durch, einem, das zugleich immer leicht spottet, aber doch immer sehr warm ist – und sagte: „Gott, ist das ästhetisch!“ – Ja. Das finde ich auch.
>>>> tisch7 legte die Zeitung mit auf den Auslagetisch des Verlages; spontane Solidarität und Mitfreude; Keul ist unterwegs und läßt immer mal wieder eine Zeitung ‚versehentlich‘ liegen… ich selbst spaziere herum, hab die Zeitungen aber im Rucksack, weil ich nicht mit meinem riesigen Konterfei unterm Arm rumlaufen mag… man ist einerseits enorm stolz, andererseits hat‘s auch was Peinliches, den Leuten dauernd was mit dem eigenen Portrait in die Hand zu drücken. Doch, wie wir an der Börse sagten: It‘s a sell. Niko Hansen, mein Verleger bei >>>> marebuch nahm mich in den Arm, boxte mit vor die Brust, grinste von einem Ohr zum anderen und zischt: „Du Arschloch, du…“ Ich: „Du selber…“ Geklärt haben wir freilich noch nix. Ich will diese Letzte Fassung des Romans wieder als Buch. Punkt. Doppelpunkt: Wenigstens als Taschenbuch. Gab ihm den von mir hergestellten Dummy: „Also, ich komme gern für eine Woche nach Hamburg und klebe die revidierten Seiten eigenhändig in die Restauflage ein.“ Er durchblätterte das Buch und fing deutlich an, sich mit der Idee zu befreunden. „Dann signierst du aber auch jedes Buch.“ Lassen Sie uns abwarten. Und wer eine Lizenz an MEERE nehmen will, möge sich beim marebuch-Verlag einfach melden. Auf der Franfurter Messe im Oktober will ich dann, daß es um Übersetzungen geht. Dafür ist Leipzig kein Pflaster.
Netter Plausch mit >>>> Joachim Kersten, der, als ich grappatrinkend bei den >>>> horen http://www.horen.de herumsaß, gerade da vorbeispazierte. Dann wieder Leute, die von dem VOLLTEXT-Coup eher schockiert sind. Immer wieder der Verweis auf Rowohlts Rotations-Romane und also die historische Bedeutung, in die nun MEERE gestellt ist. Das gefällt vielen nicht, es kommt ihnen wie ein neuerlicher Anfall herbstschen Größenwahns vor. Aber man kriegt‘s nicht mehr weg. Es ist da. Wie den Leuten die ‚Geschichte‘ sowieso unheimlich ist: Mann wird von Frau verlassen, die er leidenschaftlich liebt, Kämpfe fangen an, böse Kämpfe, die sich über Jahre hinziehen, und dann kommen die beiden wieder liebend zusammen und sind plötzlich Familie, egal, welche Verletzungen einander zugefügt wurden… diese Art des beidseitigen Verzeihens scheint den meisten unbegreiflich zu sein. „Was wollt ihr? Und wenn sie mir ein Bein amputiert hätte, ich liebe sie d o c h!“ „Du bist ein naiver Mann“, sagte gestern abend >>>> Renate von Mangold im Auerbach, wo wir aßen, „du bist derart naiv – und bist‘s immer gewesen.“ Es war auf der Haut zu spüren, wie tiefgehend sie „vorbehaltlos“ und „naiv“ verwechselt. „Naiv“ sieht nicht, was kommt oder kommen könnte; „vorbehaltlos“ s i e h t es, doch gibt dem keinen handlungsbestimmenden Wert. „Vorbehaltlos“ sagt: Was immer sich an Scheiße auf mich zuwälzt, ich wühl mich schon irgendwie durch. Und nimmt den Kampf auf. „Vorbehaltlos“ läßt es nicht zu, daß man skeptisch lebt und uneigentlich wird. „Woher nehmen Sie nur Ihren unbedingten Glauben an das Leben?“ hat mich >>>> Christa Bürger einmal gefragt. Ardet et floret. Oder >>>> d a s hier… das ist die Antwort.

Der schönen Dankesrede >>>> K.D.Wolffs zur Verleihung des >>>> Kurt-Wolff-Preises zugehört. Ihm aber (noch) nicht persönlich gratuliert, weil sich mir zu viele Gratulanten um ihn d r ä n g t e n. Ich steh auch bei Kaiser‘s nicht gern Schlange…Mit Tammen von den >>>> horen nochmal den Redaktionsschluß für die ANDERSWELT-Materialen-Ausgabe im Frühjahr 2008 festgekopft. Kretzer plant mit >>>> Uwe Kolbe eine Anthologie zur Lyrik in Popmusik – und ausgerechnet mich fragte er, ob ich nicht einen Beitrag schreiben möge. Das hat etwas derart Komisches, daß ich spontan zusagte und den späten Johnny Cash als Gegestand meiner möglichen Betrachtung nannte. Dann hörte ich, >>>> Burkhard Spinnen sei gläubig geworden, „er glaubt an den katholischen Gott“; ich verbiß es mir, nach Maria zu fragen. Bei C.H. Beck in Dagmar Leupolds Augen und >>>> neues Buch geschaut. Svetlana Geier, die einen Leipziger Übersetzerpreis bekommen hat, soll verlangt haben, d a ß sie ihn bekommt, wenn sie auf der Verleihungs-Veranstaltung erscheinen solle. „Man m u ß einer 85jährigen den Preis geben, egal ob andere besser sind… der Betrieb funktioniert so, es ist widerlich“, sagte einer, den ich hier, um ihm nicht zu schaden, nicht nenne. Mir selbst l ä ß t‘s sich in dem Betrieb nicht mehr schaden. Wie Keul in seinem Volltext-MEERE-Editorial schreibt: ANH gehört zu den „Bösen“. Doch es gibt Freunde, auch das wird mir auf dieser Messe wieder spürbar; und daß sie von den „Guten“ wahrscheinlich als „Sympathisanten“ beschimpft sind. Manche bringen die Sympathie deshalb eher leise zum Ausdruck, denn wissen – oder ahnen – wie Sippenhaft in dem Betrieb funktioniert.

8.14 Uhr:
[Leipzig Hbf. DB-Lounge.]
Was war noch? Interviews gab‘s bislang keine. Als ich gegen 22.30 Uhr aus dem Auerbach aufbrach, klang über den kleinen nächtlichen Platz eine Lesung… dabei regnete es. Im Auerbach selbst wurde in einem separaten, nämlich dem Teufels-Zimmer Goethe vorgetragen. Es ist schon wahr: die ganze Stadt l i e s t, d.h. hört zu: fast überall, in Kneipen, auf Plätzchen, in Theater, alles steht hier in diesen vier Tagen im Zeichen der wenn nicht Dichtung, so doch Literatur. Barbara Bongartz, mit der ich ein >>>> SCHREIBHEFT geschrieben habe, traf ich bei ihrem >>>> neuen Verlag mit neuem Buch: schön und reserviert wie immer und ganz manieriert, man hätte früher gesagt: eine Erscheinung. Dafür eine müde, verarbeitet wirkende >>>> Brigitte Oleschinski http://de.wikipedia.org/wiki/Brigitte_Oleschinski . An >>>> Klaus Schöffling ging ich, wie ich‘s vorgehabt habe, ohne zu grüßen vorbei. Andres wär Heuchelei gewesen. Nett dafür abends bei >>>> Joachim Unseld am Stand, der in Volltext sah und die Anzeige seines Verlagers unterhalb von MEERE. „Jetzt wirst Du immer an mich denken“, sagte er. Ich: „Nun ja, Herbst für die FVA, das wär doch mal ein Slogan.“ Momentan Blickirrn, dann lächelnd Reserve (die FVA hatte die >>>> NIEDERTRACHT DER MUSIK abgelehnt). Bodo Kirchhoff ist alt geworden, matt wirkte er immer, nun aber gesetzt; dabei hat er etwas Ätherisches bekommen, das ich noch nicht ganz fassen kann. Als ich ihm die Hand gab (wir sind einander, vor allem auch in meiner Frankfurter Zeit, bisweilen begegnet), stellte er sich vor: „Kirchhoff.“ Ich dachte: ‚Alzeimerchen.‘ So weiß die Arroganz, auf Arroganz zu erwidern – vor allem, weil ich‘s nur dachte.

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