Paul Reichenbachs Mittwoch, der 13. Juni 2007. Bericht aus der Grabkammer.

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[Ein Wort…]

Ein Wort gibt das andere
worttot meine Hand öffnete ich
meine Hand meine Hand will
sagen rufen sagen
Punkt jetzt
und alles will sagen will
gleichzeitige Welten will sagen
nichts alles
gleichzeitig meine Hände dankend
meine Hände
öffnend:

will sagen weswegen, wo
niemand da
wartet will sein meine Hand
nicht mich will
begraben
nicht Dir sein will sein
will sagen und alles
mich
will sagen

( Uta Schneider)
Nein sagte sie, ich habe am Freitag keine Zeit. Du musst schon allein in die Vernissage gehen. Ein Stunde später ein Anruf. Er, der Kronprinz, ist am Telefon. Nein krähte er mir ins Ohr, am Freitag kann ich nicht und außerdem ist mir die Kunst deiner FreundInnen genau so unverständlich und fremd wie deine eigene Schreiberei. Dein Hang nach Außen ist mir unangenehm, nimm es mir nicht übel, er hat so etwas grenzwertig Exhibitionistisches.
Dass er bei Konzerten grimassierend den Bass schlägt und damit weit mehr von sich verrät, als ich es je, abgesehen vom TB, mit Texten tat, ist ihm offenbar nicht bewusst. Hinter all der Abwehr bei ihr und bei ihm steckt die Angst, dass der Partner und Vater sich seiner Funktion entzieht und in die Kunst flieht. Dass ich mich da finden könnte wird dabei überhaupt nicht in Betracht gezogen. Es ist ihnen schlicht egal, was ich denke und fühle, Hauptsache ich funktioniere in gewohnter Weise. Als ich exakt vor 20 Jahren alle Lust an Literatur und Kunst der Realität opferte, gern opferte, in Sprachlosigkeit versank und zum Bürger im schlechten und auch guten Sinn mutierte, immer das Ziel im Auge, wenn der Junge groß ist nehme ich mir wieder mehr Zeit für meine Interessen und Leidenschaften, ahnte ich einfach nicht, dass die nötigen Kämpfe um mein ich nur zeitlich aufgeschoben worden waren. Das mag naiv erscheinen, aber Naivität und eine gewisse Infantilität sind Grundvoraussetzungen für ästhetische Kreativität, gleich auf welchen Feldern der Kunst man sät. Das ist jedenfalls meine Meinung. Der Vorwurf von ihr und meinem Sohn, dass ich seit zwei Jahren ein völlig anderer sei, trifft mich nicht. Dem Jungen nehme ich das nicht übel, er kennt mich nur funktionalisiert. Aber sie müsste es besser wissen. Denn in den Zeiten, als wir noch ohne Kind waren, um keinen Preis möchte ich ihn missen, ging es hoch her in unserem Haushalt. Eine Schreibmaschine wurde angeschafft, was in der damaligen DDR nicht einfach war. Beim Kauf, das wird heute kaum noch jemand wissen, musste der Personalausweis vorgelegt werden. Während sie sich in der Malerei versuchte, probierte ich meine Gedanken in eine Prosa zu gießen, die sich mehr an Jean Paul als an Anna Seghers orientierte. Wir führten ein offenes Haus, fast jeden Abend hatten wir Gäste: Über Farben und ihren Symbolgehalt oder über Marcel Prousts „ Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ wurde nächtelang diskutiert. Blochs Prinzip Hoffnung und Adornos Musiksoziologie lösten heftige Kontroversen aus und immer klimperte irgendwer, während der Samowar vor sich hinsummte, leise auf der Gitarre. Zugegeben, ein besseres Verständnis von Proust, das betrifft auch Thomas Mann, Kafka, Broch, Gide und Joyce, hatte ich erst im Westen. Der Kapitalismus pur, am eigenen Leib erfahren, öffnete dem antizipatorischen Bewusstsein Möglichkeiten, die vorher verschlossen gewesen waren. Am kommenden Freitag, nach 20jähriger Abwesenheit, melde ich mich, bescheidener zwar als früher, in die Kunst und Literatur zurück. Als Mediator und „Schreibtischtäter“ ! Schade, dass meine Familie davon nichts wissen will.

2 thoughts on “Paul Reichenbachs Mittwoch, der 13. Juni 2007. Bericht aus der Grabkammer.

  1. Diskussion Künstlerleben Das kommt mir bekannt vor. 😉
    Hier läuft es zwar nicht ganz so extrem., aber mein Umfeld ist sehr rational ausgerichtet und belächelt so einiges, versteht nur die Hälfte und fragt ständig nach barer Münze. Es ist ärgerlich, dass damit kein fruchtbarer Austausch zustande kommt.

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