Paul Reichenbachs Dienstag, der 26. Juni 2007. Und doch träume ich.

Nam et laetatum me fuisse reminiscor non
laetus et tristitiam meam praeteritam recor-
dor non tristis et me aliquando timuisse re-
colo sine timore et pristinae cupiditatis sine
cupiditate sum memor. Aliquando et e con-
trario tristitiam meam transactum laetus re-
miniscore et tristis laetitiam.

Augustinus : CONFESSIONES. LIBER DECIMUS.*

Traurig an Fröhliches zurückdenken, das kann man wohl mit gutem Gewissen
auch Nostalgie nennen. In den Hallen unseres persönlichen Gedächtnisses bewahren wir Ereignisse, Empfindungen und Bilder, die dort, im Gegensatz zu formatierten Harddiscs, recht ungeordnet herumliegen. Unser Speicher bedarf keines L und keiner Null. Viele Psychosen, so scheint mir, entspringen dem Bedürfnis nach Systematisierung und Ordnung. Psychotiker halten Natur schlecht aus. Einem Chaos entsprungen zu sein, macht sie krank. Sie wollen ihr Gedächtnis nach logischen Kriterien geordnet wissen und vergessen dabei, dass Unordnung auch Ursprünglichkeit heißt. Die Welt meiner Träume ist chaotisch. Im Schlaf, mit seinen Angst – und Lustbildern, entsinnt sich mein Bewusstsein an sein Eigentliches. Da wird nicht gedacht, Nostalgie ist ausgeschlossen, sondern aus Tiefen empfunden, deren chaotischen Ursprung ich im alltäglichen Leben gern wegwische. Und so erinnere ich mich, um auf Augustinus wieder zurück zu kommen, an die traurigen Dinge, die mein Gedächtnis gespeichert hat, fröhlich. Die Erkenntnis, dass ich mehr Biologie als Kybernetik bin will jeden Tag neu angenommen werden. Die überschäumende Kraft des Chaos, am Tage erfolgreich bezwungen, meldet sich in der Nacht. Und feiert ihren Aufstand. L und 0, sofern sie überhaupt Einfluss gewannen, kapitulieren vor der Macht wilder Assoziationen, die nur ein kleines Hirn, wie meines als Ketten aneinander gefügt, sich vorstellen und damit ertragen kann. Die Lebensfeier, wie die Klassik sie preist, wird, hinterfragt man sie ohne soziale Verstellung, tief romantisch, bleibt fragmentarisch. Ist mehr Bosch und Walpurgisnacht als ich mir träumen lassen will. Und doch träume ich.

*Vergangener Fröhlichkeit entsinne ich mich, ohne froh zu sein; vergangener Traurigkeit gedenke ich, ohne traurig zu sein; dass ich einmal mich gefürchtet, erinnere ich mich ohne Furcht; alten Verlangen bin ich, frei von Verlangen, eingedenk. Ja, im Gegenteil, an meine überstandene Traurigkeit denke ich zuweilen froh zurück, und traurig an die Fröhlichkeit.
(Augustinus: Bekenntnisse. Zehntes Buch.)

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