Arbeitsjournal. Sonntag, der 7. Oktober 2007.

6.30 Uhr:
[Bei Segafredo im Hbf Berlin. Aus dem Notizbücherl.]
Bei Segafredo darf man noch rauchen. Gesoulte, angenehme halb-Bar-/halb-Strandmusik läuft und klingt in das metallische Lärmen, wovon dieses enorme Glas- und Stahlgebäude angefüllt ist, das Quietschen und Kreischen der Metallräder, flatternde Ansagerstimmen, denen elektronische Gongs vorhertönen, Echos von Klingeln, gedrückter die Stimmen, das Zischen der Espressomaschine. Den Platz, über den man vom Hauptbahnhof hinübersieht und weit zu Kanzleramt und Parlamentsgebäude schräg hinüberschreiten kann, hat man „Washingtonplatz“ genannt, was in mir ein kurzes Seelenzucken auslöste, als ich es eben las. Weshalb nicht „Platz der Bastille 1789“, weshalb nicht „Platz 1848“ oder „Platz der Deutschen Geschichte“, weshalb nicht gar, um die ganz-Großen zu ehren, „Hannah-Ahrend-Platz“ oder „Ernst-Bloch-Platz“ – oder zum Beispiel „Platz des Deutschen Widerstands“? Nein, „Washingtonplatz“. Es wäre auch „Platz Israel“ gut gewesen; „Washingtonplatz“ aber zeigt allzu deutlich, wie gern man es sich als Vasall e i n e r der Siegermächte eingerichtet hat. Wäre nicht statt dessen vor allem auch „Platz der Deutschen Kapitulation 1945“ akzeptabel gewesen? Doch nein, es muß die Unterwerfung unter den kriegerischen US-amerikanischen Kapitalismus angespielt werden, sie muß wieder und wieder affirmiert werden.

Über Berlin Gesundbrunnen, meiner ersten Station auf dem Weg zum ICE, lag hoch der Mond wie eine sinkende Barke oder wie ein stylischer schmaler Sessel, zu dessen Füßen die Venus stand und über die Geleise, hell wie er, dahinleuchtete aus dem Samt, in den sie beide gehängt sind.

(Muß los, will meinen ICE nicht verpassen).

7.17 Uhr:
[ICE Berlin-Bielefeld.]Platz eingenommen, es gibt einen Stromanschluß, und ich bin gespannt, wie sich mein >>>> moobicent– Netzzugang nun während der Fahrt bewährt. Auf dem Land (über das ich schon rausche) springt UMTS, aber das war zu erwarten, auf das langsamere GRPS um. Da mich nichts eilt, stört mich das nicht. Und weil ich kurz mal politisch wurde, auch noch diese Geschichte:
Da erreichte mich vorgestern in Form eines persönlichen Anschreibens eine Einladung zu einem Kultur-Forum der —- CSU. Wie man dortseits nun ausgerechnet auf mich verfallen ist, ist mir schleierhaft. Jedenfalls lädt Ministerpräsident Goppel (unter anderem, klar) mich zu diesen Diskussionsveranstaltungen nach München ein, freilich ohne Spesenerstattung, einfach so, um das Image der CSU aufzubessern, denk ich mir und denke mir, daß die so wenig wissen, was sie sich mit solcher Absicht antun, wenn sie sie von (unter anderem, klar) mir vertreten sehen wollen, daß ich eigentlich — hinfahren m ü ß t e.
Wahrscheinlich hat sich herumgesprochen, wie ich seit zweidrei Jahren zunehmend Positionen einer Konservative nicht nur formuliere, sondern auch vertrete – allerdings scheint dabei restlos unklar zu sein, was ich darunter verstehe. Größer kann ein Mißverständnis gar nicht sein.
Es geht bei der CSU-Tagung selbstverständlich um abendländische Tradition; ebenso selbstverständlich hält man die aber für eine Sache des Christentumes allein. Da fragte ich s c h o n gern mal auf einer CSU-Diskussion nach, wie man es denn mit dem Islam des mittelalterlichen Siziliens halte, dem wir einen Großteil unserer Schriftkultur verdanken, von der Mathematik will ich gar nicht erst reden, oder mit dem Islam Andalusiens, ohne den ein Kernbereich unserer Kultur, nämlich die Kunstmusik, fast ihre Seele sogar, nicht entstanden wäre. Und ob man allen Ernstes ein Kopftuchverbot für die angemessene Weise halte, sein abendländisches Dankeschön zu sagen, um von versuchten Bauverboten für Moscheen ganz zu schweigen.
Vielleicht schreib ich einen Brief nach München und frag höflich an, ob man meine Spesen übernähme. Wenn ja, führe ich hin.

Es gehört, Themenwechsel, zu den absoluten Absurditäten eines Schriftstellerlebens, dachte ich grad, daß man für eine Viertelstunde Vortrag durch Vierteldeutschland und wieder zurückfährt – ich meine, ich w ü r d e ja länger lesen, aber >>>> der Veranstalter hat dringend darum gebeten, es bei einer Viertelstunde zu belassen, damit seine Zuhörer nicht überfordert würden. Meine Güte, welch ein Niedergang der Konzentrations- und Empathiekräfte, und welche Beförderung noch, welcher der Bequemlichkeit sich unterschleimende Bereitschaft, die Leute dahin zu bringen, wo sie sehr wahrscheinlich in Wahrheit überhaupt noch nicht sind! Und welch eine Angst, Rückrat zu zeigen.

So, ich geh während der Fahrt wieder an die erste Heidelberger Vorlesung. Wahrscheinlich werd ich den Entwurf heute fertigbekommen. Außerdem muß ich noch den AEOLIA-Ausschnitt heraussuchen, den ich nachher vortragen will.

16.03 Uhr:
[ICE Bielefeld-Berlin.]>>>> Das war eine schöne Lesung mit überraschend viel Resonanz. Wichtigstes Ergebnis ist für mich allerdings, und mit dieser Nachricht empfing mich der Galerist Jesse schon, als er mich vom Bielefelder Bahnhof abholte: daß er sich entschlossen habe, das Stromboli-Buch tatsächlich nur mit meiner AEOLIA sowie den Bildern >>>> Harald R. Gratz‘ herzustellen, und zwar das noch im Lauf des Novembers, damit der ja sehr teure und nur in kleiner 333er Auflage herauskommende Kunstband noch für das Weihnachtsgeschäft zugänglich ist. Nun muß deshalb schnell agiert werden; da Gratz im Thüringer Schmalkalden lebt und ich noch im Oktober wegen der >>>> ANNO-1900-Anthologie nach Thüringen muß, möchte ich Gratz gerne dort besuchen, um mit ihm ein wenig über die mögliche Gestaltung des Buches zu sprechen. Ich werde ihm morgen schreiben, dann sieht man weiter. Außerdem muß ich nun, sowie ich die erste Heidelberger Vorlesung fertighabe, an die Letzte Fassung der AEOLIA gehen; ich denk mal, das werd ich in einer Woche hinbekommen; danach geht’s dann an die DF der BAMBERGER ELEGIEN, und danach erst werde ich ARGO wiederaufnehmen können.

Schöner Frühnachmittag bei Espresso und Pflaumenkuchen, den seine Frau gebacken hatte, mit Ulrich Schmidt – seinerseits Schriftsteller, Ex-Dramaturg, Journalist und Freund des Hauses Jesse -, der mich dann, eben, zum Bahnhof gefahren hat. Mit Geschenken für Frau, Kinder und mich (2004er Marzemino rosso) fahr ich heim und werd so gegen halb sieben da eintrudeln; genau ist das nicht vorherzusagen, da der ICE wegen eines Stellwerkausfalls bei Hamm Verspätung hat.
Telefonat mit dem Profi noch, daß wir uns wahrscheinlich heute gegen 22/22.30 Uhr in der >>>> Bar treffen. Ich werd jetzt mal ein Stündchen dösen; der Mittagsschlag fehlt mir, zumal drei Gläser Weins in meinen Magen glitten. Wahrscheinlich krieg ich die Vorlesung nun doch noch nicht fertig; aber wenn ich das erst morgen schaffe, ist es auch kein Beinbruch. Der Text steht ja imgrunde.

22.19 Uhr:
[>>>> Bar am Lützowplatz.]
Und nun sitz ich, die Flat von >>>> moobicent macht’s möglich, tippend vor der Bar und warte auf den Profi. Moobicent hat sich auf dieser kleinen Reise prima bewährt. Auch wenn die Arbeit insgesamt kaum ein paar Zeilen weitergekommen ist. Aber es war ja auch ein Lesungstag; und den Abend mochte ich, bis alles schlafen ging, gern für die Familie sein. Zumal morgen ein wichtiges Fest ist. Aber das gehört genauer nicht hierher.

… und da ist er auch schon.

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