Paul Reichenbachs Donnerstag, der 27. Dezember 2007. Feiertage: Nadeln aus Kristall.

Weihnachtsfeiertage – das waren diesmal Tage der Rückschau. Viele Audiokassetten galt es in den PC zu überspielen, CDs mussten gebrannt werden usw. Aufnahmen mit der Stimme unseres Sohnes, der damals 4 oder 5 Jahre alt war. Das rührte natürlich und schuf eine Nähe, zu dem nun erwachsenen Kind, die ich längst verloren glaubte. Weder ihr, noch unserem Sohn war es erinnerlich, wie oft wir gemeinsam gesungen und Kasperletheater gespielt haben. Und zum ersten Mal in dieser langjährigen Beziehung spürte ich etwas wie Hochachtung gegenüber dem Vater, der seinen Sohn, mit Hilfe aller möglichen didaktischen Tricks, zu Musik und Theater verführte. Die spielerische Entwicklung musikalischer Fähigkeiten und Fertigkeiten legte damals den Grundstein für den heutigen Bassisten, der virtuos, als wäre sie ihm in die Wiege gelegt worden, seine Gitarre handhabt. Mir tat diese späte Bestätigung gut, das gebe ich gern zu. Dagegen gestehe ich ungern, dass die Weiterarbeit am „Freiherr vom Stein- Essay“ nicht recht vorankommen will, da Quellen, so z.B. Hans Ulrich Wehler, meine Skepsis und Ablehnung gegenüber dem „ Reformer“ vom Stein verstärkten. Ein Loblied auf ihn wird, wenn ich einigermaßen wissenschaftlich redlich bleiben will, nicht möglich sein. Mir fehlt immer noch der positive Einfall, der mein ablehnendes Urteil über die antinapoleonische Fronde, die in vom Stein ihren personalen Ausdruck fand, etwas „demokratisch“ versüßt. Kristallklar Liberale wie Hugo Preuss, Sozialdemokraten wie Bebel oder Franz Mehring und Konservative aller Schattierungen lobten sein Eintreten für die Städte- und Gemeindeselbstverwaltung. Und jetzt kommt das Suspekte: Im 3. Reich wurde er hochgehalten, in der DDR und in der frühen restaurativen Bundesrepublik auch. Stein, das erklärt die Begeisterung der Nazis für ihn, war Antisemit durch und durch. Stein war Russenfreund, besser gesagt Freund des Zaren Alexander, das könnte das Engagement der DDR verständlich werden lassen, feierte man doch die Waffenbrüderschaft von Tauroggen als Vorläufer des Bündnisses zwischen NVA und Roter Armee. Warum er aber nun als Vorbild und Geburtshelfer demokratischer Selbstverwaltung eines demokratischen Deutschland nach 1945 gelten soll, will sich mir, trotz Nassau’scher Denkschrift, nicht erschließen? Eine Schreibmaschinenseite habe ich bisher geschrieben, mindestens 9 müssen noch folgen. Redaktionsschluss ist am 16. Januar, bis dahin muss ich fertig sein. Aber vielleicht schaffe ich es noch im alten Jahr, denn Unangenehmes schleppe ich nicht sehr gern über die Jahresgrenze.
Erfahrungen machen, sie wirklich erfahren, braucht Zeit. So ähnlich äußerte sich Alissa Walser im Hessischen Rundfunk heute morgen. Sie sprach über Hölderlin, der in Frankfurt am Adlerflychteck, von Bad Homburg kommend, nach über 4 Stunden Fußwanderung, seiner Suzette ein Brieflein durch eine Hecke zusteckte. Hölderlin erwanderte sich seine Erfahrungen. Damals hatte man noch Zeit, bzw. ging mit ihr scheinbar lässiger um, als das in jetziger Zeit der Fall ist. Man muss heute nicht mehr stundenlang wandern, um der Liebsten eine Nachricht zukommen zu lassen. Wir haben Internet und Handy, die Kommunikation diskret und schnell garantieren. Atemnot entsteht höchsten noch aus der Geschwindigkeit mit der Nachrichten uns bestürmen, ob es nun alltägliche oder amouröse sind. Oft erreichen sie den Adressaten in ungeeigneten Momenten. Das war Heiligabend der Fall. Mitten in die Bescherung hinein, ich hatte vergessen das Handy auszuschalten, platzten mit hohem Klingelton Weihnachts- und Neujahrwünsche von R. Die Verwunderung bei meiner Familie war groß, kennt man mich doch eher als Handymuffel, der niemals, es sei denn man kündigt es mir via Mail an, per Telefon zu erreichen ist. Irgendwie verlegen murmelte ich etwas von Werbung und schaltete den schönen Schrecken ab. Schön, wirklich schön und völlig ohne Schrecken war die Wanderung mit ihr am 2. Weihnachtsfeiertag durch den nahen Wald. Rauhreif überall, dessen kristallines Weiß eine Unschuld vortäuscht, die das eigene unruhige Gewissen verstummen lässt. Erfahrungen , auch die kristallenen Doppellebens, – Glück und Glas, wie leicht bricht das – , brauchen Zeit.

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