Paul Reichenbachs Dienstag, der 19. Februar 2007. Der Täuscher Ovid. Notizen.

Die Nächstenliebe, zumal
ein Lohn der Götter winkt,
ist größte Eitelkeit.

Liebe, Zuneigung bedürfen ebenso einer Bühne wie Hass und Ablehnung. Sie sind nicht nur abhängig von den Antworten ihrer Gegenüber, sondern hängen unmittelbar von fremdem Beifall ab, den sie mit gleicher Kraft wie diese begehren und erheischen. Erst das Bravo, dem, was noch vollkommener wäre, ein da capo des Publikums folgt, das aus dunklem Saal, von Parkett und Rängen über die Rampe, hin zu den Brettern und in die Kulissen drängt, bestätigen sie, spornen sie an und lassen sie erneut entflammen. Das vor sich hinbrummelnde Paar, modellhaft begegnen wir ihm in Philemon und Baucis, kennt keine Aufregung, keine Hochs und keine Tiefs. Ihre Zärtlichkeit ist ein Spiel der Langeweile, die nicht ans Leben und schon gar nicht an den Tod rührt. Erst der Besuch der Götter reißt beide aus ihrer Döserei, und Nächstenliebe ist ihnen im täglichen händchenhaltenden Einerlei willkommene Abwechslung; denn auch Philemon und Baucis brauchen ein Publikum, in dem sie sich spiegeln können. Ihre Maßlosigkeit, das Salz der Suppe jeder Leidenschaft, halten sie im Religiösen verborgen, ergo müssen es dann schon Götter sein, die sie an den Tag bringt. Dass das Paar die Wanderer nicht erkannte ist eine Legende, die wir Ovid verdanken. Jede Legende ist ein Versuch über wahre Hintergründe zu täuschen. Die Nächstenliebe, zumal ein Lohn der Götter winkt, ist größte Eitelkeit

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