Paul Reichenbachs Dienstag, der 11. März 2008. Tod der Ironie.

„Wenn die subjektive Ironie verschwindet
– und sie verschwindet im Spiel des Digitalen -,
dann wird die Ironie objektiv. Oder sie
verstummt.”
Jean Baudrillard

Von der Insel des zweiten Gesichts zurück, wandernd auf den Spuren von Vigoleis, haben Paul die Worte verlassen. Es war aber nicht der Aufenthalt auf Mallorca, der ihn in die Aphasie drückte. Dies anzunehmen hieße die Wochen vor der Reise ignorieren. Ungefähr seit Beginn des neuen Jahres hat er das Gefühl, dass sich Worte, einzelne Sätze in ihm eng aneinander drängen und statt einen Ausgang zu suchen knäueln sie sich zu einem Kloß, der dick und unförmig im Hals steckt und Paul die Luft zum Atmen nimmt. Die Fähigkeit locker und verantwortungslos und mit heiterer Ironie über seine Lage verbal und mit einem gehörigen narzisstischen Schuss laut oder schriftlich zu reflektieren ist ihm verloren gegangen. Über die Gründe kann nur spekuliert werden. Da ist eine tiefe Skepsis gegenüber dem Netz, die sich bei Paul, wie bei einem Quartalssäufer der Durst, in regelmäßigen Abständen meldet. Die kommunikative Vernetzung, meint er dann, ist kein Mittel zum Zweck der Verständigung mehr. Weder für ihn selbst noch mit anderen. Ein zweifelhafter Wert an sich, der Voyeure aller Schattierungen bedient, die sich an Furcht, Schrecken, Lust und Leid anderer weiden, um sich überhaupt zu spüren. Paul sitzt seit Tagen an seinem Reisetagebuch. Wortmüde und gedankenarm. Der Übergang zwischen Schweigen und Verstummen ist fließend. Die Ironie ist verstummt.

Wie armselig ist der Wert der Schönheit eines langen Lebens!
Komm schnell, erhänge dich im Liebestod. (aus China)

11 thoughts on “Paul Reichenbachs Dienstag, der 11. März 2008. Tod der Ironie.

  1. G e s t a l t e n, Herr Reichenbach! Sie müssen das Netz gestalten, umformen, in Bewegung setzen und dürfen es nicht (nur) kommunikativ nutzen. Es ist eine – Leinwand.

    Wie herrlich ist der Wert der Schönheit des gelebten Lebens!
    Komm schnell, berausche dich am Liebesleid!
    (aus Deutschland)

    1. @ANH. Die Leinwand ein Netz durch dessen Maschen Farben, Linien und Laute rauschen. Ich muss fester stricken lernen.

      Das Zitat ist dem Beitrag „Romeos und Julias in Yunnan“ der Zeitschrift „Lettre“ 80, Seite 126 entnommen. Sehr informativ und einfühlend erzählt hier die Autorin GU XUE’ ER über die besondere Kultur des Liebestodes bei den Volk der Naxi in Lijiang. Ein Brauch, der sich gegen die dominierende Han-Kultur und deren konfuzianische Traditionen wandte, die verwandelt im „sozialistischen“ China bis heute fortbestehen. Bei den Naxi trafen die Liebenden die Entscheidung für ihre Verbindung selbst. „ Frei seiner Natur zu folgen“ war und ist bis heute ihre Maxime. Und wenn äußere Faktoren diese Liebe nicht zuließen oder nicht zulassen wollen, verabredet das Paar sich zum gemeinsamen Freitod, wie es das Versepos Lubanlurao schildert. Es würde den Rahmen dieses Kommentars sprengen tiefer darauf einzugehen. Ich empfehle daher den Beitrag in der Lettre. Die Autorin berichtet hier ausführlich über Recherchen zu seinem Werk „Der ultimative Liebestod“.

      … Wie armselig ist der Wert der Schönheit eines langen Lebens! / Komm schnell, erhänge dich im Liebestod! / Ein Menschenleben lang nichts als Mühsal, doch nicht einmal satt wird man;/ Ein Leben lang Milch – doch gibt es nie genug zu trinken; / Ein Leben lang grüne Wiesen – doch es gibt nie genug zum Anziehen! / Lass deine guten Augen die Berge erschauen, lass deine gute Hand frische Milch melken, lass uns in den tanzenden Wolken der Bergwelt leben!/ Ewiges Leben auf einen Turm von Federn, Seite an Seite und Herz an Herz;/ Geh, geh hin ins reich der Freiheit – komm, komm her ins Paradies der Glückseligkeit! / Mit leuchtenden Augen erblickst du den schimmernden Silberdrachen – schnell hinauf auf den weichen jadegrünen Teppich! / Mit flinker Hand die herrlichsten Blumen pflücken, trittst du ein in das Paradies der tanzenden weißen Wolken./ Hier wartet ein Überfluss an Samt und Seide, dich einzuhüllen, ein Überfluss an köstlichem Obst, dich zu nähren; hier wartet ein Überfluss an süßem Likör, ein Überfluss an Geld und Gold./ Ein flammendroter Tiger dient uns als Kutsche, silberglänzende Rehe ziehen den Pflug; / Ein großohriger Fuchs ist unser Jagdhund, ein buntfedriger Goldfasan kündigt den Morgen an. / Der du traurig bist, wirst fröhlich werden, der du ackern musst, wirst warm gekleidet sein; / Webst nur ein Kleid, und wirst für immer in Pracht gehen, säst nur ein Korn, und wirst doch für ewig in Essen schwelgen… !
      Aus dem Chinesischen von Karin Betz

    2. “Hier wartet ein Überfluss an Samt und Seide, dich einzuhüllen, ein Überfluss an köstlichem Obst, dich zu nähren…” Es wartet indessen, Reichenbach, n i c h t s dort. Ich verstehe die Bewegung, aber sie führt von der Auflehnung fort, die des Lebens wäre. Sollte dabei gestorben werden müssen, wär es ja immer noch Zeit. Obst nämlich gibt es nur hier.

  2. Erstaunlicherweise sind es immer die Lebenden, die die Vorzüge des Todes (nie des eigenen) gegenüber dem verächtlich gemachten Leben besingen – und selten die Toten.

    P.S.: Gegen den Druck in der Gurgel, die brütende Skepsis und sonstige Materialisierungen des «Black Dog» hilft nur: Kommunikation.

    1. @brsma. Wie sollten die Toten auch, da sie doch singen nicht k ö n n e n?

      P.S.: Kommunikation kann es aber auch erst r i c h t i g schlimm machen. Jeder Kneipenbesuch kann da zu einer bitteren Lee/hre ausarten.

    2. Re: [@ANH] Eben. Und u. a. auch das macht mir, umgekehrt, die Lebensverächtlichen so suspekt: die Glorifizierung dessen, was sich eindeutig jenseits ihres Erkenntnishorizonts befindet, die Toten sind ja schließlich immer die anderen. Unterm Strich finden sich dann – erlittene Verletzungen hin oder her – auf jede Form menschlicher & weltlicher Fülle neidische Vernichter, maligne Giftmischer, kurzum: ausgemachte erbärmliche Arschlöcher, allesamt.

      Ansonsten: ich meinte nicht den Kneipenbesuch o. ä., hätte wohl besser geschrieben: Kommunikation mit Personen, die einem vertraut und wichtig sind (wie auch umgekehrt!). Rückzug in Isolation und Selbstgespräch ist die zweitschlechteste aller schlechten Möglichkeiten, wenn einen der schwarze Hund packt – zu schnell wird da jeder Gedanke wachsende Selbstvergiftung. Stellen muss man sich ihm, so oder so – nur allermöglichst nie allein. Und leicht getan ist das nie, schmerzhaft dagegen oft bis immer… Aber es geht auch, ebenso immer, vorbei. Leben heißt: auch das – und nie zu vergessen: «Exuberance is Beauty.» (Blake: Proverbs of Hell – m. E. nicht das schlechteste Text-Antidot, übrigens)

    3. Für brsma. Warum sollen das gleich ‘Arschlöcher’ sein? Vielleicht sind das einfach nur arme Menschen. Ich finde Ihre Ausdrucksweise sehr überheblich und unangemessen.

    4. @ G.A.Buerger a) Auch ein Mensch, der in seinem Leben zuhauf Unglück und/oder Gewalt (seelische/körperliche/…) erlitten hat, ist mit Sicherheit eines nicht: ein nur armer Mensch. Und wird auch nicht notwendigerweise ein Verächtlicher.

      b) Ein Lebensverächtlicher agiert vor allem destruktiv: nicht (nur) gegenüber seinem eigenen Leben, sondern (vor allem) gegenüber dem aller anderen. Die poetische Form dürfte dabei noch eine der vornehmsten und harmlosesten Varianten darstellen. Am anderen Ende steht allerdings das millionenfache Blutbad. Und dazwischen die ganz normale zwischenmenschliche Alltagshölle.

      c) Ich halte die allgemeine Vorstellung des freien Willens für überholungsbedürftig. Dennoch habe ich die Erfahrung gemacht, dass Menschen über gewisse Erkenntnis- und Steuerungsfähigkeiten bezüglich Wahrnehmung und Handeln verfügen. Auch «arme» Menschen.

      Ergo: Im weitesten Sinn Opfer gewesen zu sein, erklärt zwar einiges, ist aber keine hinreichende Entschuldigung dafür, lebensvergällendes Arschloch zu sein. Zumal jene die übelstmöglichen Gegenüber darstellen, wenn einer vom Black Dog heimgesucht wird.

    5. Merkwürdig… Während Paul Reichenbachs Text trotz der totgesagten Ironie doch einen subtilen Umgang mit derselben pflegt und infolgedessen auch die ihn begleitenden Kommentare dies tun, ist die Ironie in Ihren Kommentaren, brsma, offensichtlich völlig verstummt. Das hat – bei aller ‘Wahrheit’ des Gesagten – etwas störend Unstimmiges!

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