Arbeitsjournal. Sonntag, der 20. Juli 2008.

5.37 Uhr:
[Arbeitswohnung. Händel, Saul.]
Man kann nicht sagen, daß dies für mich eine Arbeitshoch-Zeit sei; das Modell ‘Sublimation’ hat bei mir noch nie so richtig funktioniert. Aber ich entsinne mich – jetzt, da ich permanent Musiken auf den Laptop überspiele -, daß ich auch früher solche Zeiten hatte; selten, daß ich n i c h t s tat, aber doch gemessen an meinem Aktiv-Normal-Status durchhing und das dann aber anders füllte, zum Beispiel, indem ich meine Musikaufnahmen archivierte, wie jemand im Winter seine Nahrungsbestände sichtet und ordnet, die Einmachgläser abstaubt, durch das Glas auf die Früchte schaut, sie meinethalben nach Farbe und Glanz anordnet auf ihren Regalen, den Speck, der von der Decke hängt, nach Maden abklopft… na, das tat ich gewissermaßen gestern auch. Also ich laß ja gerne den Käse draußen liegen, damit er weiterreift, manchmal in kleinen Gefäßen, manchmal einfach nur im Papier, und so tat ich am Anfang voriger Woche oder am Samstag davor mit einem Limburger auch. Als ich nun dreivier Tage – oder eine Woche – später das Papier öffnete, um von dem Käse zu nehmen, war er – lebendig geworden. Das reinste Gewimmel. Meine phylogenetische Reaktion war mäßig; nüchtern packte ich das Papier einfach wieder drum und warf das ganze tatsächlich ziemlich weiche kleine Brikett in die Mülltüte im Mülleimer, wo ich es dann erstmal ließ, ohne zu bedenken, daß auch Maden eine Seele voller Sehnsucht haben. Denn wenngleich sie es sich ja hätten gut ergehen lassen können in ihrem Käsespeck, trieb einige von ihnen nun das Fernweh… jedenfalls saßen die Auswanderer bald auch am Innendeckel des Mülleimers und wanden sich vor Ferntrieb. Sie kamen aber nicht raus, es sind ja keine sehr schnellen Tiere, und der Eimer schließt dicht. Fragen Sie mich nicht, weshalb, aber ich gab den Wesen ihre Chance und wartete weitere zwei Tage. Bis ich mir eben gestern ein Herz faßte und ihrer Vergeblichkeiten ein Ende setzte, die Mülltüte außen um den Mülleimer herum verschloß, das ganz Ding nahm und nach unten zum Hausmülleimer brachte, dort sozusagen insgesamt entleerte, mit Papier nachwischte, dann mit dem Eimer in die Arbeitswohnung zurückkehrte und ihn unter ein Gemisch aus einer halben Flasche Domestos und heißem Wasser setzte. Jedenfalls ist der Eimer heute so sauber, wie er nicht bei seiner Anschaffung war.
Mit sowas verbringe ich meine Zeit; es gibt mir das Gefühl von Naturnähe, das muß ich sagen.
Guten Morgen, Händel, guten Morgen, Leser, guten Morgen, Morgencigarillo, guten Morgen, o mein latte macchiato. Ich hänge an den ersten beiden Versen der zweiten Bamberger Elegie fest.

(…und wie ich gestern erschrak! Ich hatte nach der Wohnungsauflösung meiner Mutter aus ihrem Nachlaß ein paar Sachen für meine Hamburger Cousinen mitgenommen und hier deponiert. Eine der beiden hatte ich schon bei der Beerdigung wiedergesehen, die andere, jüngere, aber nicht. Sie muß jetzt fünfzig sein, sowas. Meldete sich gestern, daß sie in Berlin sei, ob sie die Sachen herausholen könne. Dann stand sie in der Tür. Es war eine alte Frau geworden. Der Schock war so heftig, daß ich ganz sprachlos war. Wir redeten auch nur zweidrei Sätze, denn sie hatte ihren Wagen in zweiter Reihe geparkt, und Freunde warteten darin. Wir gaben uns die Hand mit drei Fingern, soviel Fremdheit war. Meine junge Frau grüßte auch kurz, das machte den Eindruck nicht besser; die Zwillinge standen in der Tür; sie sollten gerade zu Bett gebracht werden. Ich hatte den Eindruck von Flucht. Seit bestimmt fünfundzwanzig Jahren, wenn nicht seit dreißig, hatte ich meine Cousine nicht mehr gesehen; meine Herkunfts-Familie ist so, beide Stränge sind so.)

4 thoughts on “Arbeitsjournal. Sonntag, der 20. Juli 2008.

  1. Gut, daß ich bisweilen auch hier archiviere.

    knotscher95 meinte am 20. Jul, 06:49:
    ich schlage ihnen hiermit diese performance vor : sie verwenden C4 –
    bringen dieses an die “ELEGIEN” an – zünden im beiseinvon au8serwählten
    leuten, die schon mal eintrittsgeld zahlen dieses , sammeln diese “ELEGIEN”
    hernach eigenhändig auf und verticken die papierschnippsel für 5 E pro stück an
    potentielle käufer.
    der gesamte vorgang macht etwa 30.000 € aus, wenn nicht mehr.
    mit den engeln würde ich ähnlich verfahren.
    dann wäre diese SCHEISSE schon mal weg.
    das ist doch nur reaktionärer kram – machen wir uns doch nichts vor.
    ANSONSTEN : meinen sie echt auf mich einen edukatorischen effekt ausüben
    zu können AUA herbst.
    meinen sie echt ? – dass diese kafka reminiszenz irgendetwas bringt ?
    aua.
    sehen sie ihre kassiber ein & da wären dann wohl zahlen.
    da bin ich jetzt knallhart.
    kalkuliert sozusagen.
    ein mensch.
    umkippend.
    klar.
    soll ich das jemand anders beweisewn müssen ?
    HÄ ?
    aua.
    und sie halten sich vielleicht noch für das definivtie licht ?
    na für mich nicht.
    aber ich bin halt auch nur ein crack.
    ich würde gerne für andere sprechen können.
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    albannikolaiherbst antwortete am 20. Jul, 07:37:
    @knotscher95.
    1) Ähm. Was meinen Sie mit Kafka-Reminiszenz? Was ich beschrieb, ist reiner Rea-, ja Naturalismus. Lacht.
    2) Was verstehen Sie unter “reaktionär”?
    3) Seien Sie vorsichtig, daß nicht die Engel mit I h n e n so verfahren. Aber vielleicht haben sie das ja längst getan.
    4) Mit ist Ihre emotionale Überwogung gerade nicht ganz verständlich. Irgendwas hat Sie jetzt sehr angefaßt, sed mea non culpa sum.
    5) Wenn schon, dann “jemandem anderes”, wem?: Dativ. Aber wieso überhaupt ‘beweisen’?
    6) ‘edukatorisch’? Nichts läge mir ferner. Ich kenn Sie ja nicht mal.
    7) Ihr Text klingt nicht nach knallhart, sondern nach suffweich. ‘tschuldigung, isso.

    1. Na wenn das so ist –
      Habs ja schon mal gesagt, dass ich mindestens die hälfte der ELEGIEN für makellos halte – dabei bleib ich auch.
      C4 im grunde deshalb, weil dies – mal abgesehen von der performance s.o. , die ich für irgendwie avantgardistisch hielte – eine ultraradikalität in der nachbearbeitung auch ausdrücken könnte, etwas reduzierter interpretiert …
      Ich frage mich immer mehr– und das als jemand, der auch echten Trash ( neben nono oder schubert &c ) hört – was in dieser hohen poesie, die ich da goutiere – die ganze alltagssprache zu suchen hat.
      Deshalb nun mein wirklicher vorschlag :
      gründliche schere einsetzen, die die makellose poesie von der technischen sprache so gründlich es geht befreit : diese aus sich heraus wirken lässt.
      Nun da das allerdings ihre methode ist, die sie da in den elegien verfolgen geht’s mich eigentlich ja auch nichts an.
      ( ob die vorliegenden radikalen sprachfusionen sinn machen )
      Was die ENGEL an betrifft, so vermute ich aufgrund
      des titels – und nur um den wäre es mir oben gegangen : der engel ordnungen – dass sie die ordnungen der engel alle kennen.
      Das halte ich für äusserst problematisch – ich nehme das
      nämlich KEINEM ab – deshalb die polemische schärfe.
      Der rest meines komms wäre weichgesoffener mist da hab ich mich zu entschuldigen.
      tu’s hiermit.

      Also, vielleicht etwas vernünftiger damit umgegangen & fazit:
      ich befürchte in den elegien einen verlust – keinen kommerziellen sondern einen künstlerischen.
      Und das ist dann auch echt das letzte mal, dass ich da meinen senf dazugebe.
      Ansonsten das sorry von mir. Freut mich dass sie damit so locker umgehen können.
      Netten tag, was sonst.
      k.

    2. @knotscher95. Zum Titel. Er zitiert indirekt. Rilke, 3. Duineser Elegie.
      Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel
      Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme
      einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem
      stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts
      als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen,
      und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht,
      uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich.
      Das Schreckliche der Engel wird bereits >>>> hier aufgenommen; das Gedicht wird wie ein Motto im Band rechtsbündig noch vor den anderen Gedichten stehen.

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