Die Tante ist tot. 09.09.2008. Paul Reichenbach lernte durch sie Ionesco kennen.

Gestern kam ich wieder einmal nicht zum TB. Hektik im Büro und ein Anruf daheim brachten mich so aus dem Gleichgewicht, dass meine Lust mich mitzuteilen gegen Null tendierte. Angerufen hatte mein Cousin. Meine Tante, 77 Jahre alt, ist gestorben. An Lungenkrebs. So lange ich mich an sie erinnern kann, rauchte sie. Ernte 23. Ihr toter Körper wird am Freitag verbrannt werden. Das Erschreckende ist, dass ich nicht in der Lage bin Erinnerungen an sie in mir wach zurufen, obwohl sie relativ viel für mich, als wir noch Osten wohnten, getan hat. Das mag wohl auch daran liegen, dass ich schon als kleiner Junge es ungeheuer peinlich fand wie und mit welchem Brimborium ihre „Westpakete“ bei uns zu Haus geöffnet wurden. DDR, war für mich als 5-jähriger mehr als was mir der Westen je bieten konnte, ohne dass ich in diesem Alter genau gewusst hätte warum. In dieser Zeit lernte ich lesen. Keiner brachte es mir bei. An Filmplakaten wie „ Skanderbeg, Ritter der Berge“ oder „Schüsse an der Grenze“ und an Losungen wie dieser „ WIR EISENBAHNER UND EISENBAHNERINNEN KÄMPFEN UNTER DER LOSUNG. GRÜNDLICH DENKEN; EHRLICH ARBEITEN; WISSENSCHAFTLICH FORSCHEN UND FROH UND KULTURVOLL LEBEN; erschloss sich mir das Alphabet. Manchmal lagen den Paketen Micky Maus, Akim- und Sigurdhefte bei, die mich alle Losungen und die „Schüsse an der Grenze“ vergessen ließen. Abends, dann wenn meine Mutter Nachtdienst hatte, ich sollte längst schon schlafen, holte ich mir die Hefte von meiner Großmutter, nahm 4 Riesenbände Stalin aus dem Regal, die irgendjemand einmal meiner Mutter aufgeschwatzt haben musste, alle Grün mit goldenen Lettern auf dem Bucheinband, wenn mich meine Erinnerung jetzt nicht trügt, stapelte sie unter dem Lichtschalter, um dann auf den wackligen Stapel „Stalin“ zu klettern, der mir zu Licht verhalf, war doch der Schalter für einen 6-jährigen viel zu hoch. Einige Jahre später schenkte mir meine Tante zur Jugendweihe, sie war mit ihrem Mann extra angereist, der Ford den sie fuhren, machte Furore in unserer kleinen Stadt, die Losungen hießen jetzt „Chemie bringt Wohlstand“ und dgl., eine Junghanns-Uhr, flach im Gehäuse, die den hiesigen langweiligen Suhler Armbanduhren nicht nur an Schönheit, sondern auch, hatte sie doch eine Datumsanzeige, an Technik überlegen war. Bei diesem Besuch brachte sie für meine Mutter Anne Golons Roman „Angelique“ mit. Das Buch verschlang ich. Zwei Jahre später wünschte ich mir dann schon anderes. Das Interesse hatte sich gewandelt, gab es doch in der damaligen DDR ein einbändiges Lexikon der Weltliteratur, das ich, auch zu meiner Jugendweihe, von einem Onkel, der ein ziemlich heftiger „Stalinist“ gewesen ist, im Dritten Reich war er Berufssoldat, was ihm 7 Jahre Gefangenschaft bei den Russen eingebracht hat, geschenkt bekam. In diesem Lexikon strich ich mir alles an, was mit dem Signum spätbürgerlich, dekadent versehen worden und in keiner „normalen“ Stadtbibliothek zu finden war. Auf diese Weise entstand eine Riesenliste von Baudelaire über Pasternak, Sartre, Camus, James Joyce bis Eugene Ionesco. Der Dramatiker Ionesco, weiß der Geier warum, interessierte mich damals vordringlich. Die am vergangenen Sonntag verstorbene Tante, deren eigene Lektüre aus „Schwälbchenromanen“ bestand, schmuggelte das kleine dtv-Bändchen über die Grenze. „ Die kahle Sängerin“, nicht die „Nashörner“ wurden dann für lange Zeit, neben Shakespeares Richard III., zu meinem Lieblingsstück. Ionesco brachte mich zum Lachen, auch deshalb, weil mir nach Lachen oft nicht war. Die Losungen hatten sich wieder einmal geändert. Ihren Grundtenor konnte man an Zeilen ablesen, die sich nun lyrisch gebärdeten und mit ihrem fürchterlichen Reim Furcht verbreiten sollten: WO DER OCHSENKOPF IM HAUS,
DA SCHAUT DER STRAUSS ZUM FENSTER RAUS !

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