Arbeitsjournal. Sonntag, der 16. November 2008.

7.34 Uhr:
[Am Terrarium.]
Eigenartiges Erwachen, das heißt: nicht das Erwachen meine ich (das insofern auch schon eigenartig ist, als es ein Verschlafen war; bin erst um sieben Uhr hoch), sondern die Gedanken, die mich fast sofort mit dem Aufstehen befielen: „Legenden“, dachte ich, „ich will eine Sammlung mächtiger politischer Legenden beginnen, als eigene, neuer Rubrik in Der Dschungel“; nämlich war das erste, was mir heute morgen einfiel, bildkräftig einfiel, als Bild, muß ich sagen, die Szene, in der Alexander dem niedergeworfenen und sterbenden Darius Wasser aus seinem Helm holt und zu trinken gibt, worauf ihn Darius zu seinem Nachfolger bestimmt habe. Das Bild ist mächtig, mächtig als Bild, seit Schwartz es mir in >>>> „Schnee in Samarkand“ erzählt hat, wirkt es und wirkt. Ich sehe die Halbsteppe, sehe die beiden Männer, den einen liegend, den anderen – es ist wie eine Filmeinstellung -, wie er den Nacken des Perserköniges auf seinem linken, daruntergeschobenen Unterarm hat und ihn anhebt und leicht dreht, damit der Kopf des Sterbenden nicht zurückfällt, und wie er ihm, in der rechten Hand den gefüllten Helm, die Lippen netzt, indem er den Helm leicht kippt. Wie Darius Alexander ansieht… – Die Legende ist falsch, jedenfalls sehr zu bezweifeln, dennoch drückt sie eine Allegorie aus, weshalb sie derart bleibt.
Man hat auch versucht, Legenden wie diese ganz bewußt zu erfinden und dann in Umlauf zu bringen, auf beiden Seiten, der der „schlechten“, der der „guten“; eine gute Idee stammt von Syberberg aus seiner Parzifalinterpretation, daß er nämlich – die Wunde heilt der Speer nur, der sie schlug – Kundry neben Amfortas aufbahren läßt, beide nebeneinander zum Königsgrab, weil sie zueinander gehören, ich mag fast sagen: von allein Zeiten an. Diese Idee kommt >>>> Ratzingers Aussage ausgesprochen nahe.
Weitere Legenden: die USA landen in der Normandie an, um zu Befreiern Europers und namentlich Deutschlands zu werden (de facto griffen sie in den Krieg erst da ein, als schon absehbar war, daß er für Hitler verloren ginge; sie hatten kein moralisches Sendungsinteresse, sondern eines an der Verteilung der Ressourcen sowohl von Land wie Geist). Der Kyffhäuser schließlich, auf dessen Rolle in Verbindung mit christlicher Eschatologie Ernst Bloch hingewiesen hat. Die Legende um Robin Hood dann, die politisch der Machtsicherung Richard Löwenherz’ diente; bis heute funktioniert sie und wirkt sie.
Also, ich will mal sammeln. Was solche Legenden zerstört, ist die Profanierung zu Unterhaltungszwecken (etwa Disneys Animationsfilm —


SPÄTER WEITER DRÜBEN NACHDENKEN, “SPÄTER”, DENN: —–

8.32 Uhr:
[Jarrett, Lausanne Konzert 1973.]
Unterbrechung. Die Zwillingskindlein sind erwacht, haben ihre Milch bekommen; K. ist erwacht, hat ihren Kaffee bekommen; die beiden großen Jungs (Katangas Sohn ist bei uns zu Gast über Nacht) sind zu wecken, wurden geweckt, bekamen ihren Kakao ans Bett… es macht richtig Freude, morgens, weil auch die Zwillinge es nun einfordern, n a c h der Milch, einen Riesenpott Kakao zu kochen, wie mein Vater ihn immer bereitet hat: dreimal aufkochen muß er, Junge!, damit sich die Geschmacksteilchen aus dem Kakaomehl lösen, wie bei arabischem Kaffee…
Wie ich den Sonntag anlegen werde, außer daß ich lesen und Cello üben will, ist noch nicht ganz heraus; mittags holt der leibliche Vater die Zwillinge für paar Stunden ab, K. wird schwimmen gehen und saunen; abends hab ich >>>> eine Uraufführung zu besuchen, auf die ich mich überdies sehr freue, auch wenn >>>> Helbig , von der hier >>>> eine Zender/Hölderlin-CD ankam, sich über >>>> Peter Ruzicka eher verhalten geäußert hat (Leukert war ähnlich zurückhaltend). Ich kenne bislang nur e i n e Komposition von ihm, die aber gefällt mir: >>>> Fragmente für >>>> Allan Pettersson. Staatsoper Unter den Linden einmal wieder, nach langer Zeit der, kann man das sagen?, Abstinenz?? Gut, kann man sagen, nur stimmt es natürlich nicht. Spät abends, denke ich, werde ich den Profi >>>> in der Bar treffen.

9.01 Uhr:
Les’ ich gerade: >>>> einen Riesen-Krach gibt’s um die heutige Uraufführung. Na, da wird im nichtöffentlichen Vorfeld aber was losgewesen sein!

4 thoughts on “Arbeitsjournal. Sonntag, der 16. November 2008.

  1. @ ANH; keine… … schlechte idee, die legenden. allerdings könnten Sie gefahr laufen, dem projekt durch eune unschärfe des begriffs legende quasi ein virus einzuhandeln. das soll keine wissenschaftliche beckmesserei sein, vielmehr: zur legende gehört ihre erzählung. der kern solch einer erzählung scheint Ihnen mit der alexander-szene “zugeflogen” zu sein; dazu ließen sich weitere szenen finden (gelimer vor justinian vielleicht, christus vor pilatus, robbespierre vor dem schafott &c.).
    wenn Sie aber von der stellung und den verdiensten amerikanischer intervention im zweiten weltkrieg sprechen, benutzen Sie zwar das wort “legende”, jedoch in einem eher landläufigen sinn: synonym mit märchen, unwahrheit &c. es geht aber in diesem fall, anders als den vorher genannten, mehr um bewertungen als um emblematische szenen, letztlich um historiographie (die immer einem an sich wertfreien gegenstand, geschehnissen nämlich, werte zuschreibt), weniger um legende. Sie werden vermutlich auch schwierigkeiten haben, vom d-day in ähnlicher weise zu erzählen wie von alexander und dareios.

    1. @Aikmaier. Das ist wohl richtig. Es liegt, denke ich spontan, wohl vor allem daran, daß sich der d-day nicht in einer ähnlichen Weise personifizieren läßt. Dieser Spur wäre nachzugehen. Andererseits besteht (und bestand vor allem schon lange v o r dem Zweiten Weltkrieg ***) die Legende hier in einer quasi-Personifizierung, die bis ins 18. Jahrhundert zurückreicht: Amerika als Garten Eden, könnte man sagen. Was dazu geführt hat, daß wir bis heute höchst unkorrekt von “Amerika” sprechen, wenn die USA gemeint sind; darin wittert eine Freiheitslegende nach, die selbst auf unwahren Grundlagen beruht, incl. auf dem bis heute verdrängten Genozid an der amerikanischen Vorbevölkerung. Es w a r de facto ein Genozid, die Legende überstrahlt ihn aber. Man stelle sich so etwas in Sachen Holocaust vor, dann wird einem klar, w i e stark Legenden wirken können. (Zu diesen stark wirkenden Legenden gehört sicher auch der Arthus-Kreis, der die teils höchst gewaltsame Christinisierung bis heute mit einer Aura des Märchenhaften umgibt.)

      [***): Meinecke beschreibt in seinem Buch eine für diesen Zusammenhang sehr erhellende Szene. “Befreite” Deutschen laufen hinaus, holen die US-amerikanischen Soldaten zu sich nach Hause und spielen ihnen Jazz vor. Womit die Soldaten gar nichts anfangen können, denn sie lieben Hillbilly Music. Hier trifft die Legende auf eine ganz andere Realität. Die Realität ist aber schwächer als die Legende, so daß die Legende wirksam b l e i b t.]

    2. @ ANH; ja, personifizierung… … einerseits; typisierung andererseits, würde ich fast sagen. politisch grundierte legenden überleben wohl auch dann lange, wenn sich die beteiligten auf eine bestimmte ‘tugend’ hin typisieren lassen: alexander als personifizierte milde gegenüber dem besiegten feind, “amerika” als land der freiheit (das es de facto für viele in europa verfolgte radikal-protestantische gruppierungen in der tat war, allerdings ebenso wie australien und neuseeland, an die sich keine so starke legende knüpft), “liberty island” als ankunftsort der emigranten bis ins 20. jhd. hinein &c., mustafa kemal als visionär einer vorausschauenden, “aufgeklärten” und säkularen türkischen gesellschaft. in allen drei beispielen werden die berühmten “dunklen seiten” von der zugeschriebenen tugend überblendet: eine an wahnwitz grenzende expansionspolitik des “großen” makedonenkönigs, der von Ihnen schon genannte physische und ideelle völkermord an der nordamerikanischen bevölkerung, der geplante und großenteils durchgeführte völkermord an der armenischen bevölkerung des osmanischen einflussgebietes.

      meineckes beispiel scheint mir interessant, weil es zeigt, dass dergleichen legenden nicht unbedingt von “den siegern” ins leben gerufen werden, um die negativen implikationen eines sieges zu bemänteln, sondern dass auch “opfer” sie benutzen, um vielleicht ihre jeweilige niederlage erträglicher zu machen.

      spannend.

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