In ruhiger Perfektion, und getragen. Carla Bley & Ensemble in der Berliner Passionskirche.

Zu fragen wäre, ob der Raum gut war. Er bot sich für den Anlaß an, ja. Denn Carla Bleys Arrangements waren durchkomponierte Variationen über bekannte Weihnachtsthemen. Doch der schwere Gründerzeitraum der Passionskirche legte solchen Stein und solches Holz auf die Musik, daß sie einiges von weihevoller Hommage bekam. So auch das Publikum: graues Haar, wohin man sah. Gewissermaßen beging man eine Chistmette der Erinnerung an vergangene Jugend: so sehr war zu spüren: die Zeit des Jazz’ ist vorüber. Vor fünfundzwanzig Jahren hätten die Leute energiegeladen in Schlangen vor dem Eingang angestanden; hier jetzt war zwar der untere Kirchenraum voll, aber die Emporen hatten gewaltige Pubikumslöcher. Eingeweihte waren zusammengekommen, doch nicht, um zu wollen, nicht, um zu drängen, sondern der Stand ist erreicht, man hat pünktlich sein Gehalt auf dem Konto, kann deshalb die horrenden 35 Euro für den Eintritt locker verschmerzen; ansonsten putzt man wochenends sein inneres gesellschaftskritisches Automobil und bereitet sich dabei allmählich auf den Lebensfeierabend vor. Darüber täuschten auch die gelegentlichen, irgendwie rituellen Jubelrufe nicht hinweg, nicht gelegentliche Begeisterungspfiffe. Ein großes menschlich-allzumenschliches Vorüber umarmte sich in dem inneren Kirchenbau zu einem Akt abgefundener Getragenheit. Die Christmas Carols unterstrichen das selbst noch dadurch, daß die hinreißenden Musiker des Bläserquintetts signifkant jünger waren als acht Neuntel ihrer Zuhörer. Eine Musik, die nicht wenigstens einen Kreis junger Anhänger hat, stirbt aus. Das zu spüren, war das Traurige an diesem Abend.
Es gab der Musik zugleich ihren besonderen Ausdruck entferntester Melancholie. So auch das Paar, das zu feiern man hergekommen war und das in warmer lebensgeschichtlicher Distanz von den übrigen Musikern spielte: Carla Bley selbst und der Ausnahmebassist Steve Swallow, der versonnen und mit leisester, verklärter Ausdruckskraft auf seinem J-Bass vor sich hin improvisierte; beide, Bley und Swallow, w e n n solistisch, musizierten ohnbedies eher als Duo denn in einem Septett. Nicht selten traten sie vom Podium sogar zur Seite, um den anderen, jüngeren, einfach zuzuhören, als wäre es nun d e r e n Zeit, zu der sie auch einzweimal behutsame Tanzschritte wagten. Leidenschaft ist keine Sache mehr des Alters: das war so sehr unter der Haut. Nicht nur bei der nun siebzigjährigen Carly Bley, die am Klavier kaum mehr zu hören gab, als bisweilen das reine Skelett ihrer Arrangements, bisweilen das Thema als Introduktion, bisweilen eine analytisch durchlaufende Reduktion aufs Tonmaterial, sondern eben auch bei Swallow, der, vorgebeugt, die Augen immer nah am Notentext hatte, sehr nah, wegen der Kurzsichtigkeit. Es kommt auf Virtuosität nicht mehr an, ist man ebenso über die Jahre eines musikantischen Zirkuspferds hinaus wie der gealterte Voltigeur, der seine Kapriolen darauf exerzierte. Das war gestern abend ebenso zu merken wie, dort freilich aus anderen Gründen, bei dem späten Keith Jarrett, dessen letzte Solostücke wie meditierender Hindemith klingen. Es läßt sich mit gleichem Recht sagen, die Luft sei raus, wie, sie sei in einen perfekten Schwebezustand übergegangen. Dem tut ein Kirchenraum nicht gut, weil er verdoppelt. Besser hätte das Kesselhaus-Team dieses Konzert drum in den eigenen, nüchternen Saal in der Kulturbrauerei gelegt: es wäre die spielerische – ecco: – Arbeit betont worden, die guten Jazz immer ausgemacht hat. Dann wäre mehr übergesprungen, sowohl von der Musik ins Publikum, als auch und vor allem von diesem auf die Musiker, die sich dann aus der vorgeführten stabilen Harmonie hätten womöglich lösen, die dann womöglich hätten wirklich loslegen können, auch und gerade weil Bleys Arrangements so bis ins Letzte in einen Schönklang ausgetüftelt sind, der schon die Ewigkeit, möchte man meinen, in den Ohren hat. So traten wir in die Nacht hinaus. Anderthalb Stunden am Stück war gespielt worden, und schweigend und dunkel lag nun der Christmarkt da. Wie Geschichte, die auf dem kleinen Platz verging.Carla Bley, Klavier & Arrangements.
Steve Swallow, Bass.
Tobias Weidinger, Trompete.
Axel Schlosser, Trompete.
Christine Chapman, Horn.
Adrian Mears, Posaune.
Ed Partyka, Bass-Posaune & Tuba.

[Fotos: Chohan.]


10 thoughts on “In ruhiger Perfektion, und getragen. Carla Bley & Ensemble in der Berliner Passionskirche.

  1. das mit dem verdoppeln der getragenheit hört sich wahr an und verstellt vielleicht den blick aufs geschehen.
    ich hab allerdings einen jarrett 2003 in der disney hall LA erlebt, der spielte ein stück an, trat an die rampe und übte erstmal an dem frisch eröffneten gehry architekturkritik, ich glaube, der sound travelt besser von den rängen zu mir auf die bühne als umgekehrt. altersweise konnte ich ihn nicht finden. es ist vielleicht eher so, wenn man mal allen und sich selbst die virtuosität gezeigt hat, zu der man fähig ist, will man sich wieder selbst überraschen. bugge wesseltoft im babylon hätte mit gleichem recht eines leidenschaftslosen spiels bezichtigt werden können, was er getan hat, war aber schlicht, etwas neues auszuprobieren. und der ist jung.
    forever klamm ist ja nun auch kein wirklich erstrebenswerter zustand und graue haare finde ich zumindest attraktiv. ich hab so viele und zuletzt einen vor fünf jahren schon steinalten julius shulman gesehen, die so beyond all conventions sind und so viel weniger brav als eine jugend und mein mittleres alter, dass ich oft geneigt bin, eher auf die angry old women und men zu setzen, als auf eine um anerkennung ringende young generation. wenn die luft raus ist, bin ich einfach gespannt auf die metmorphosen eines anaeroben spiels, mag sein, das ist frau bley nicht gelungen, zuzutrauen ist es ihr noch allemal. siebzig ist ein super alter. go for it.
    und ich weiß es noch genau, jules deelder http://nl.wikipedia.org/wiki/Jules_Deelder befragte mich mal zu rühmkorf, was ich von ihm hielte, den ich nicht besonders leiden kann, und ich sagte, well, he s an old man. und herr deelder belehrte mich völlig zu recht: you can t blame him for his age. er war damn right i guess.

    1. @diadorim. Darum geht es mir auch gar nicht, dem Alter ein Recht abzusprechen; alles andere als das. Der alte Klemperer, bereits im Rollstuhl, dirigierte hinreißend, indem er nichts anderes mehr tat als mit einer Hand den Takt anzudeuten. Was auffallend war, war die Verklärtheit gestern abend, zu der sich die etablierten Mallinksgewesenen so hinzuaddierten. Die Musik war wunderschön, aber nichts darüber hinaus; das ist mir, letztlich, zu wenig. Außerdem hat nach wie vor Gustav Mahler recht, als er über den jüngeren Kreis um Schönberg nüchtern bemerkte: Sie sind jünger, also haben sie recht.

      Mir bleibt von dem Konzert – gerade auch jetzt, nach dem nochmaligen Abhören zweimal hintereinander (es ist sinnvoll, bevor man über etwas schreibt, noch mehrmals genauestens hinzuhören) – der Eindruck einer so wunderschönen Traurigkeit, weil sie mit Abschied gewürzt ist. Gegen a n g r y old men hätte gerade ich gewiß n i c h t s einzuwenden.

    2. ‘independently blue’ ob die jüngeren, die derzeit manche rente an der börse verjubeln, recht haben, wage ich zu bezweifeln, aber so meinte es mahler nicht. und biologisch lässt es sich nicht erklären, warum die spezies mensch ihr reproduktionsfähiges alter um so viele jahre überlebt. anyway.
      die mallinksgewesenen. hm. parallalie zitierte neulich auf seinem blog adornos gezeichnet. passionierte rosenzüchter, anzeichen der dekomposition, jaja, “Es ist, als ob die Menschen zur Strafe dafür, daß sie die Hoffnungen ihrer Jugend verraten und sich in der Welt einleben, mit frühzeitigem Verfall geschlagen würden.”
      ich wage mal eine these, wenn ich, als frau, nicht anfange im alter die hoffnungen meiner jugend zu verraten, verfiele ich nicht, ich wäre schlicht nicht mehr sichtbar. oder, wie ich frau rois immer wieder gerne zitiere, ich komme jetzt endlich in das alter, wo ich so schlecht drauf sein darf, wie ich mit zwanzig schon war. oder, anders, die hoffnungen meiner jugend empfinde ich im vergleich zu den hoffnungen, die ich fürs alter habe, vergleichsweise konventionell. was habe ich denn gehofft, das einzige, was ich noch gelten lassen kann, wäre die hoffnung auf ein hic et nunc. hier und jetzt. nichts vertagen. ‘love me or leave me and let me be lonely’. alles und zwar jetzt und nicht auf raten (nix auf ratten, nee, nüscht mehr was nagt). aber das doch zu jeder zeit. meine mutter berichtet mir von einer jugend, die hofft, dass ihre eltern nicht ihr erbe verprassen, sie mutmaßt, dass die tochter ihrer schwester es ungern sieht, wenn sie sie zu ausflügen mitnimmt, denn, wohlmöglich gebe sie dann ja geld aus, worauf die jugend hofft. widerlich, eine solche vorstellung.

    3. @diadorim (und Reichenbach): Die Jüngeren. Sehen Sie, bitte >>>> beide, daß ich glaube, die Klage Älterer über Jüngere geht seit der Geschichte der Menschheit so von Generation zu Generation. Die Älteren fanden i m m e r schlimm, was die Jüngeren taten, und sie hatten immer g u t e Gründe. Die Jüngeren dann, waren s i e Ältere geworden, fanden, was die n u n Jüngeren taten, ebenfalls immer schlimm und hatten ebenfalls gute Gründe – und so fort. Nun sind w i r die Älteren.

      Es w a r oft auch schlimm, was die Jüngeren taten (und die Älteren a l s Jüngere getan hatten); aber immer kam auch etwas dabei heraus, das (er)lebenswert war; alles von dem – ich schließe den mir verhaßten Pop durchaus mit ein – war a u c h eine Chance für die Kunst und w u r d e Kunst zum Teil, war eine Chance für die Moral und wurde Moral zum Teil, war eine Chance fürs Zusammenleben und m a c h t e das Zusammenleben schön; in jedem Fall war es ein weiterer Schritt der Evolution. Unterm Strich wollte ich heute in keinem anderen Jahrhundert als in dem meinen leben. Weshalb sollten die jetzt Jüngeren das nicht ebenfalls sagen, wenn sie Ältere geworden sind? Auch, meinetwegen, o h n e Bücher, ohne Jazz und nur-noch vernetzt. Was wissen w i r?

      Die Sache mit der Geldgeilheit, liebe diadorim, ist k e i n Beispiel, weil es davon zu Hunderttausenden Beispiele auch in unserer Generation, der unserer Eltern und zurück bis an den Anfang des Geldes gibt. Ich halte sie für eine kultursublimierte Form des Überlebenskampfes, letztlich für Biologie.

    1. ja, das ist der eigentliche skandal. 45 oder 25 euro für einen abend jazz, in den nicht kleinen berliner festspielen, ist nicht gerade billig. jazzfestivalkarten anfang der neunziger in münster lagen bei 50 mark für drei tage, ermässigt. das war auch nicht billig. a-trane, ca 17 euro, auch das ist geld, aber der laden ist klein und künstler müssen von was leben. ist so. das publikum, entweder sehr jung, oder älter, die generation der 30-40 jährigen als hörer fast nicht vertreten beim jazz. woran mag das liegen? die sind keine studenten mehr und bekommen keine ermässigung? ist das ein grund?
      diana krall, herbie hancock, branford marsalis, gidon kremer spielten hier alle für draussen und umsonst und für teuer tags drauf wo drinnen. das ist eine massnahme. man kann das verbinden. was ist mit firmen wie alice oder telekom? deutsche bank oder siemens? ich frage mich das schon lange. es gehört nicht viel dazu. es hat wirkung, es feilt am image. wo sind sie also mit den massnahmen für jedermann?
      (ich kann mich auch darüber aufregen, wenn es mal wieder im feuilleton heisst, dampft die preise ein für literaten, sonst werden sie nicht gut. kein mensch käme auf die idee, dass ein orchester besser spielte, wenn man ihm die subventionen streicht, oder ein geiger nur gut, wenn er sich die geige selber schnitzen muss und auf unterricht verzichtet. das ist doch alles nur noch absurd.)

  2. man hält generationen in der regel nicht getrennt. die sache ist die, es gab wenige meiner generation, auf die ich vertraut habe, veränderungen herbeizuführen, es gab wenige meiner elterngeneration, die meine grosselterngeneration hätte sein können, denn ich bin eine nachzüglerin, die den mut bewiesen haben, es anders zu machen, und es wird wenige in nachfolgenden generationen geben. meine hoffnung hängt weniger am alter, an generationen, als an einzelnen, denn es waren immer einzelne, die mich beeindruckt haben.

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