“Ich bin dazu übergegangen, alle Bücher, die ich lese, in einer Kladde zu notieren mit kurzer Inhaltsangabe u. meinem Eindruck davon. Nachdem ich festgestellt habe, dass man sich an manche Bücher nur vage erinnert, halte ich das für notwendig. Außerdem ist man so gezwungen, sorgfältig zu lesen. Das letzte Buch sind die ungeschriebenen Memoiren von Katia Mann. Sie wollte als einzige in der Familie nicht schreiben und hat auf Drängen ihres Sohnes Michael seine Fragen u. die einer bekannten Autorin beantwortet und so ihre Lebensgeschichte erzählt. Sie hat sich ja immer im Hintergrund gehalten, trotzdem hat sie direkt (Zauberberg) oder indirekt erheblichen Anteil an dem Erfolg ihre Mannes. Vor allem hat sie immer dafür gesorgt, dass er seine Ruhe zum Schreiben hatte, was mit 6 Kindern sicher nicht so einfach war. Überhaupt schildert sie ihr langes Leben eigentlich in der Zweisamkeit ihrer Ehe. Die Kinder mussten wohl oft auf ihre Eltern verzichten. Liegen da schon die Wurzeln für das Scheitern einiger Kinder, für ihren Selbstmord?”
***, den 3.5.09

Liebe Mama,

ich mache gerade etwas Ähnliches, nur notiere ich in einer virtuellen Kladde. Das Buch, das ich lese, heisst Klage, Rainald Goetz hat es geschrieben, ich glaube, er hat keine Familie, keine selbst gegründete, aber darüber erfährt man nichts, bis jetzt.
Es ist eine Art Tagebuch, das am 1. Februar 2007 in Berlin begonnen wurde und am 21. Juni 2008 in Berlin aufhört, ich bin gerade beim 21. Juni 2007. Ich fliege übrigens am 21. Juni wieder nach Berlin. Habe ich im letzten Jahr, glaube ich, auch so gemacht. Zufall.
Goetz schrieb dieses Tagebuch für ein ziemlich überflüssiges Glamour-Magazin, vielmehr für dessen Internet-Seite, und da auch nur ganz versteckt. Das Magazin gibt es inzwischen nicht mehr, aber seine Texte daraus sind nun in einem sehr schönen blauen Buch bei Suhrkamp erschienen. Wie die deutschen Klassikereinbände in preussisch blaues Leinen gebunden und der Umschlag in Ultramarin. Na, vielleicht etwas dunkler als Ultramarin. Ich würde gern wissen, wie die Farbe heißt.
Ich habe zu Anfang des Studiums mal was von ihm gelesen, ‘Irre’ heißt das Buch, dazu einige Theaterstücke. Und, du hast Recht, ich kann mich leider kaum erinnern, nur dass es mir damals viel bedeutet hat, das weiß ich noch. Für eine Aufführung von ‘Festung’ fuhren wir Anfang der ’90er nach Hamburg ins Schauspielhaus, es gab sehr viel Beifall, und er kam dann irgendwann selbst noch auf die Bühne.
Wenn ich ihn heute wieder lese, dann knüpft das auch an die Zeit an, wo man Schriftsteller noch nicht als Berufskollegen betrachtet hat, da hatte man noch das Gefühl beim Lesen, jedes der Bücher sei für einen ganz persönlich geschrieben worden als Leser. Heute fühlt man sich hingegen eher mal vom Lesen ausgeladen, weil man ja selber schreibt. Und das verändert den Blick. Man schaut immer, ob man das auch so machen würde, oder gerne so gemacht hätte, und nur das überzeugt einen dann, was ja völliger Quatsch ist.
Im Grunde können Schriftsteller über Schriftsteller gar keine brauchbaren Urteile fällen, oder eben nur solche, die auch wieder nur für Schriftsteller interessant sein können. Ich glaube es war Odo Marquard, ein Philosoph, der mal gesagt hat, wenn Philosophen für Philosophen schreiben, ist das ungefähr so viel wert, wie wenn Sockenhersteller nur für Sockenhersteller Socken herstellten. Deine Socken tun hier jetzt wieder ihren Dienst, es wird kälter in SP. Was macht eigentlich dein Daumen?
Ich muss an die Arbeit. Dein Brief hat mich sehr gefreut, ich bekomme in SP kaum noch Briefpost sonst. Schade.
Der SWR2 hat übrigens mein Buch besprochen, schon im Januar, was ich erst gestern entdeckte. Ziemlich toll.

Alles Liebe
Deine
***

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