Arbeitsjournal. Sonnabend, der 5. September 2009. Berlin und Frankfurtmain.

6.22 Uhr:
[Arbeitswohnung. Bruckner IX, Zagrosek.]
Seit kurz nach fünf auf. Ich höre meine Aufnahme durch, um heute früh noch die Kritik zu gestern abend zu schreiben, bevor ich vielleicht noch ans Cello komme; gegen zehn wird mein Junge zum Üben herüberkommen, auch um erstes Vokabellernen (es fällt ihm schwer) zu vertiefen; Latein. Aber er ist, seit er aufs Gymnasium kam, sowas von geradezu schullüstern geworden, wurde sogar von den Mitschülern zum Jahrgangssprecher gewählt, ich bin ganz verdutzt. Immerhin da haben wir Eltern und er, scheint mir, die richtige Entscheidung getroffen. Okay, und um etwa zehn nach zwölf brech ich wegen >>>> der MEERE-Lesung morgen zum ICE nach Frankfurt auf. Hab so gut wie kein Geld mehr, Αναδυομένη warf mir zehn Euro im Umschlag in den Briefkasten, damit ich unterwegs wenigstens einen Kaffee trinken kann; aber das Geld morgen bekomme ich in bar, dann müssen sofort Miete, vor allem Kreditkartenrate, das ist irre wichtig in dieser Situation, dann Telefon, dann Krankenkasse bezahlt werden – und wutsch wird alles wieder wegsein. Es kommt aber noch ein Honorar wegen der PEN-Anthologie. Wenn ich sonst, seit Jahren eigentlich, von Monat zu Monat springt, hüpf ich momentan von Woche zu Woche. Verlier dennoch nicht die Lust, hatte sogar viel Spaß gestern bei den anderthalb Stunden Zahnarzt, auch wenn das seit langem mal wieder eine Sitzung war, die mir klarmachte, daß es halt d o c h der Zahnarzt war und nicht, was unser aller Lachen aus den Behandlungsräumen gerne anders hatte, ein ausgelassenes Beisammensein den Sonntag feiernder Landleut. „Fäden legen“, ich sag Ihnen, ist eine lustige Sache, also wenn man das schnell noch nachholt auf einer Seite ohne Betäubung. Müdigkeit nach dem Konzert, weil die Zähne grummelnd vor sich hinpumpten, seit auch die andere Seite wieder was merkte. Ich saß da dann schon mit M. und dem später hingekommenen Profi im Esquina Dunckerstr./Ecke Dimitroff, brach auch früher auf, lag kurz vor halb eins im Bett.
Die Zahnarztgeschichte war nicht arbeitsförderlich, zumal frühnachmittags die Kinder, mein Bub und seine Freundin, hier mittagaßen und Hausaufgaben machten und Vokabeln gelernt wurden, sie englische, er lateinische. Danach zog ich eigentlich schon gleich ab, um auch noch einen Blick ins Terrarium zu meinen Zwillingskindlein zu tun. Die dürfen nicht abermals das Gefühl bekommen, der Papa sei für immer weggegangen, da muß innere Sicherheit hin. Sicherheit, ja, beruhigend: mein Tickett war über die Kreditkarte zu kriegen, die nach wie vor funktioniert. Enorm wichtig, daß das auch so bleibt.
Schließlich kam über den Tag noch eine Hiobsbotschaft; ANDERSWELT III ist ganz offenbar nicht unterzubringen, wenngleich mit ausgesprochenem Bedauern, „aber wir können einfach finanziell nicht, wir würden uns überheben als Verlag“ usw.., vor allem, weil völlig klar ist – und ich das, anders als Freunde, auch immer so gesehen habe -, daß der dritte Band nicht herausgebracht, weil nämlich nicht verstanden werden kann, wenn nicht auch die beiden anderen vorliegen und gelesen werden können. Können sie zwar, über z.B. ZVAB, aber auch amazon kriegt man noch „Restbände“, aber sowas macht eine Verlagsdistribution kompliziert; außerdem stimmt’s so mit der Verlags-Autor-Leser-Identifizierung nicht. Irgendwie – das hab ich ich von meiner Zeit als sehr junger Autor innenbehalten – denk ich immer noch: imgrunde:: Suhrkamp. Da wäre aber der einzige mir – allenfalls – als gangbar erscheinende Weg derjenige über die Verlegerin direkt, doch wäre das eine Entscheidung gegens halbe Haus, so, wie Unseld das mit >>>> Marianne Fritz gemacht hat. Na, Illusion, grau verträumte & vertrante. Mein publizierender Weg geht anderswohin, deutlich ins Netz, vielleicht noch ebook, kombiniert mit bod und selbstproduzierten mp3s; das Problem dabei ist schlichtweg das Geld: wie verdiene ich wenigstens so viel, daß das Existenzminimum gesichert ist; meine Distributionsideen leisten das noch nicht und würden es, w ü r d e n sie umgesetzt, ganz sicher noch einige Jahre lang nicht leisten. Also Teller waschen gehen.
Ich laß mich dennoch nicht vermiesen, ich lebe dennoch gerne – und preise, was ich gern tu. Man muß halt unmoralisch werden. (Dies ist mein 13300ster Eintrag in Der Dschungel.)

6 thoughts on “Arbeitsjournal. Sonnabend, der 5. September 2009. Berlin und Frankfurtmain.

  1. Grundversorgung Zitat: “…das Geld: wie verdiene ich wenigstens so viel, daß das Existenzminimum gesichert ist?”

    Und der “Onkel Hartz” srielt bei diesen Überlegungen keine Rolle?

    1. jeder weiß, dass hartz4 keine sicherung, sondern eine haltlose demütigung ist. das minimum der existenz wird zu einem nicht geringen teil durch würde gesichert. und wenn ich allein lese, wie viele menschen nicht von den einkünften ihrer arbeit leben können, egal, ob künstler oder gebäudereiniger, dann sind solche überlegungen für meinen geschmack zynisch.

    2. @Hartzkind. Das Problem ist aus meiner Sicht – der ich über den Literaturbetrieb (nicht etwa über Leser, sondern über Lektoren, Kritiker, auch Kollegen) mehr an Demütigungen aushalten mußte, als einem halbwegs sadistisch geschulten Arbeitsamt-Mitarbeiter überhaupt nur einfallen könnte – ein anderes, als diadorim es sieht. Für Hartz IV muß ich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen; ich stehe aber meiner Arbeit zur Verfügung, gewissermaßen ausschließlich. Ich arbeite viel, und schon deshalb, nicht nur meines Alters und meiner Ausbildung wegen, wäre ich nicht vermittelbar. Also wäre ich auch nicht berechtigt, Hartz IV zu empfangen – jetzt mal ganz abgesehen von den Problemen, die sich sowieso mit Freiberuflern stellen. Unvermittelbar bin ich freilich auch in meiner Profession,so daß bei Hartz IV und mir das Ei dem Huhn die Augen aushacken würde, noch bevor es gelegt war.

    3. nun, das sollte damit gesagt sein. sie arbeiten. sie sollten davon leben können. eine alleinerziehende mutter zb arbeitet auch, sie sollte davon leben können etc pp. so einfach, so kompliziert. arbeit ist ein sehr eng gefasster begriff geworden, so eng, dass arbeit ein exklusives gut geworden ist, absurd ist das.

    4. Herr Herbst,
      Sie haben ja mit allem Recht was Sie da sagen, aber die Sache mit dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stellen ist etwas worauf Millionen Menschen hoffen, sie hoffen und stehen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung, sie bekommen aber nichts.
      Ich versteh ja dass sie auf die Nerverei auf dem Amt verzichten wollen, aber das ist Geld und es steht Ihnen zu und es steht jeden zu der keine Arbeit findet.
      Die Banker und all die Anderen Deppen sollten mal lieber solche Skrupel haben, aber nicht Arbeitslose, Dichter und andere Künstler

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