Arbeitsjournal. Montag, der 28. September 2009.

8.38 Uhr:
[Saint-Saëns, Erstes Klavierkonzert.]
Verschlafen, aber doch noch s o rechtzeitig auf, daß der Bub nicht zu spät zur Schule kommen mußte, auch noch seinen Kakao auf dem Lager süffeln, frühstücken, sich fertigmachen konnte. Du hast begonnen, Schach zu spielen, Deine Freundin – auf dem dem Deinen direkt gegenüberliegenden Gymnasium, einem naturwissenschaftlichen – hat Schach als Lehrfach, Pflichtfach sogar, und es Dir beigebracht. Nun spielen auch wir, abends eine Partie vor dem Schlafengehen, oder halt mein mir liebes Tabla/Backgammon. Strategiespiele fürs Denken, fein das, zusammen mit der musikalischen Frühausbildung. In der „musikalischen Visitenkarte“, die Ihr für den gymnasialen Musikunterricht anfertigen solltet, hast Du notiert: Der Unterricht könnte ein wenig schwieriger sein. Nein, Du magst Dich nicht langweilen, auch wenn Du in nahezu keinerlei Hinsicht das verkörperst, was man einmal den „Primus“ einer Klasse nannte. Ich bin stolz, ziemlich stolz: nichts Blasses an Dir.

Zur Wahl. Mein jüngerer, längst verstorbener Bruder, der seine letzten Jahre als Aufseher von Großbaustellen verbrachte, wählte immer, seiner „Klasse“ unangemessen, CDU, und zwar mit dem Argument: So lange es meiner Firma gutgeht, geht es mir auch gut. Das erklärte den gestrigen Wahlausgang, wenn man einmal annimmt, daß die meisten „Arbeiter“ und Arbeitnehmer ebenso denken; die Bankenkrise ist kein Argument dagegen, im Gegenteil: Man will jetzt den Kapitalismus stärken, damit ihn die Krise nicht am Schlafittchen kriegt. Denn eigentlich ist doch für die meisten Menschen gar nichts passiert, ein paar Kredite sind vielleicht geplatzt, andererseits haben einige Banken stillschweigend auch für „einfache“ Leute die Dispisitionskredite sogar noch erhöht. Man fängt durch Schulden auf, das ist das System, und prolongiert die Krise nach vorn, schiebt sie in die Zukunft und wird, wenn d a s dann knallt, abermals schieben. Irgendjemand, freilich, muß das alles bezahlen, aber es wird ganz sicher nicht der Westen sein. Hier geht es rein um Interessen, sehr persönliche Interessen, zu denen dann noch die weltanschaulichen Fragen und Ängste kommen: keine Burka im Unterricht usw., bloß keine Moscheen in Deutschland, Deutschland den Deutschen usw. Sozialistische Interessen-Globalisierung greift nicht, im Gegenteil, führt erst recht zu Abwehr. Nein, mich wundert der Wahlausgang nicht. Dazu kommt, daß der Merkel Biederkeit (anscheinende; jemand, die den Metternich des 20. Jahrhunderts, Helmut Kohl, in die Knie zwang, i s t nicht bieder)… – also daß ihr biederes Aussehen den Leuten Identifikationsfläche ist; objektiv hat sie ja nun auch nicht eben schlechte Arbeit gemacht, wenn man das mal mit dem spaltzüngigen Schröder vergleicht, der sich jetzt um Putins Waden schlängelt: nach außen den Irakkrieg boykottieren, hinter den Kulissen aber Waffenhilfe leisten: Scheckbuch-Diplomatie usw. Der Kapitalismus ist, daran gibt es gar keinen Zweifel, von der Mehrheit der Bevölkerung gewollt, ein paar widerständige Intellektuelle stören da nur, so, wie Demonstrationen das kommode Heimkehrn nach der Arbeit stören. Ich habe sogar Zweifel, ob man für ungestörtes Heimkehren nicht auch die Segnungen der sozialen Maktwirtschaft – es s i n d Segnungen – drangeben würde.
Andererseits, der Erfolg der >>>>Piratenpartei zeigt, daß sich an der Basis wieder etwas rührt, ein Unwille, sich gängeln zu lassen, und zwar in d e m Bereich, der zukünftig die Öffentliche Meinungsbildung weitergehend als jedes andere Medium mitbestimmen wird. Die Zielgerichtetheit der Partei ist ein ebensolcher Vorteil wie es seinerzeit die der jungen Grünen war; in jedem Fall ist hier ein Ball ins Rollen gekommen, und ich werde ihn mitkicken, soweit ich vermag. Nein, eintreten werde ich nicht, ich passe nicht in Solidaritäten, sowas ist bislang jedesmal spätestens dann schiefgelaufen, wenn ich mich einer „Räson“ beugen sollte; außerdem halte ich volkstümelnde Parteitage nicht aus; zur Willy-Brand-Zeit war ich Juso und lief dann entsetzt davon: Humpa-Humpa-Musik, außerdem die kumpelige Duzerei, die ich leidig und geschmacklos finde; dann war ich mal, als Beobachter, auf einem Parteitag der CDU, das war fast n o c h grauenvoller. Sage mir, was die Leute hören, und ich sag dir, was sie sind. Dagegen ist jedenfalls sogar der Mainstreampop noch besser… na, weniger schlecht… na, nimmt sich nicht viel.

Sechste Elegie, ff. Gleich wird wohl Αναδυομένη hereinschneien, freu mich auf sie, wir werden vielleicht was frühstücken, vielleicht auch… aber ich bin in Gedanken jetzt so bei der Wahl, der Gesellschaft, in den Elegien, und Spatzenscharen bevölkern dieses Arbeitszimmer mit zwei Raben, die angeflogen kamen, nachdem die Minerven ihren Schlafplatz aufgesucht… bei mir ist das Fenster ja immer offen, schon wegen meiner Qualmerei. Und Löwen schleichen stumm freundlich um uns herum.

19.49 Uhr:
[Wagner, Meistersinger, Bayreuth 1997 (Barenboim).]
>>>> Nächster Ironieversuch. Ich >>>> bin halt einfach besser. Man kann tun, was man will, sie begreifen es nicht.

Hänge immer noch an der ersten Seite der Sechsten Elegie. Meine Folgekonsorten hätten sie in einer Stunde hingerotzt und dann, mit nix als Tarantino im Gonadenbeutel, ihre neuen Kaiserskleider vorgezeigt und diesen dann gleich mit. Selbstverständlich werden die Kleider bejubelt; man kann dennoch nur hoffen, daß sich die Herren wenigstens vorher gewaschen und vielleicht auch ein wenig rasiert haben. Bischofslinski hab ich aus hygienischen Gründen heute schon mehrfach löschen müssen.

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