Metall im Schoß der Erde. Glucks Iphigénie en Tauride an der Hamburgischen Staatsoper.

[>>>> Hamburgische Staatsoper, 25.10.2009.
Tragödie in vier Akten. Dichtung von Nicolas-Francois Guillard.
Musik von Christoph Willbald Gluck.]

Schreiben könnte ich…. „gelungen wundervoller Abend, nicht nur die sieben verschieden notierten Tremoli sauber intoniert, dynamisch vielfältiger Gesang mit großem Stimmvolumen in allen Stimmregistern, viel Applaus, ein begeistertes Publikum.“ Täte ich das, klänge es aber, als wär ich gar nicht dagewesen, hätte selber nicht gehört, nicht gesehen, nicht empfunden. In den 2 ½ Stunden der Aufführung wurde der ganze Raum aber in solch einen auratischen Mantel gehüllt… das Tuch nach und nach immer dichter. Oft erlebe ich, wie Musiker eine äußerliche Situationsmalerei, die ja oft auch erwünscht, wenn nicht sogar gefordert ist, nicht lassen können. Doch an diesem Abend reduzierten sich Bühnenbild, Choreographie, Musiker, Sänger, Chor und Dirigent zu einer Einheit, als verneigten sie sich vor der Einfachheit des wahren Ausdrucks. Selbst Alessandro De Marchis Bewegungen waren präzise zurückhaltend.

Gluck setzt bereits das Prinzip der „Übersprungshandlung“ kompositorisch um. Das wird vor allem im Bild des Augen:blicks deutlich. Iphigénie erkennt ihren Schmerz, gerade hat sie erfahren, ihre ganze Familie sei ausgelöscht worden. Und sie beginnt zu singen. Das steigt aus der Schwere ihres Schmerzes so losgelöst auf, kommt fast leicht und so süß daher wie die Melodie einer Volksweise. Man möchte fast dazu tanzen. Während sie aber singt, hebt sie die Bühne hinauf und enthebt sie ihres Schmerzes. Immer mehr Licht wird. Doch im Hintergrund erhebt sich ihr Schatten auf der verrosteten Schiffswand. Die singende Iphigénie wirkt abwesend, wirkt wie gar nicht beteiligt, doch ihr Schatten… der ist da und hält den Schmerz fest. Noch nie sah ich in einer Oper ein derart intensives Bild. Der Körper will schützen in dem Augenblick, in dem etwas so sehr an die eigene Substanz geht, daß es einen fast vernichtet.

Glucks Körper Iphigenies ist kein Menschen-Abbild einer überkommenen Gesellschaft. Man sieht zwar eindeutig die identitätshaftenden Rollenklischees, aber der Körper darf in seiner Wahrheit er selbst bleiben. Er muß es auch, weil es die Rollen- und Gesellschaftsklischees zu enthüllen gilt, weil der Körper das Recht auf eine eigene Ausdrucks-Wahrheit hat. Philippe Calvarios Inszenierung richtet den Blick auf das Innere von Körper, richtet ihn auf seine psychophysische Identität. Diese – eigene – Wahrheit darf und muß rücksichtslos sein. Am Ende zerbricht Dianas Statue. Zwar ist Erlösung nah, doch bleibt dies brüchig. Die sehenden Augen des Schwertes Damokles’.

Neben mir sagte ein Mann: „Mit dem Ende kann ich nichts anfangen, es ist ein einziges Fragezeichen.“ Ich antwortete nicht. Der Abend selbst gab die Antwort.

Am Donnerstag, dem 29.10., wird die letzte Aufführung dieser Inszenierung stattfinden. Karten gibt’s >>> dort, oder an der Abendkasse. Meine ist schon bestellt, ich werde ein drittes Mal hingehen.

(Musikalische Leitung: Alessandro De Marchi, Inszenierung: Philippe Calvario
Bühnenbild und Kostüme: Jon Morell, Licht: Bertrand Couderc
Choreografie: Sophie Tellier, Chor: Florian Csizmadia
Spielleitung: Heiko Hentschel.
Iphigénie: Alketa Cela – Oreste: Bo Skovhus, Pylade: Toby Spence
Thoas: Nmon Ford, Diana: Maria Markina)

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