Arbeitsjournal. Montag, der 30. November 2009. In die Serengeti.

6.06 Uhr:
[Arbeitswohnung. Saariaho, Violinkonzert (1994).]
Um halb sechs auf… na ja, Viertel vor sechs.Die kleine Reise ist quasi vorbereitet. Seltsam geträumt. Ich brachte Freund E. hoch zu meinem Bruder, der in einem Seitenhaus, das voller mir Bekannter war, die dort mit ihren Kindern wohnten, auf einen Dachboden zurückgezogen lebte; dort saß er bös an seinem Schreibtisch, in Decken verhüllt, und machte Notizen. Der Dachboden war nur zugänglich über eine hohe Leiter, die eine Falltür-Klappe abschloß. Man mußte die aufstemmen, dann kam man in das wundersam-gefährliche Reich. Ich hielt E.’s Hand, die den Revolver hielt. „Jetzt drück ab”, sagte ich. Er drückte ab. Ich sehe noch die Einschußwunde in der linken oberen Schläfe meines Bruders; die Kugel fuhr an der anderen Seite des Kopfes glatt wieder aus. Da gingen wir.
Über den Tag fiel mir ein, daß ich den Tod meines Bruders all den Bekannten, wohl auch Verwandten, die in dem Haus lebten, melden müsse. Ich sagte: „Mein Bruder hat sich umgebracht” und versuchte, wenn schon nicht erschüttert, was mir g a r nicht gelang, so doch wenigstens traurig zu wirken. Die Nachricht wirkte so erschütternd, daß niemand meine Kühle bemerkte. Eine offenbar enge Freundin meines Bruders wollte die Nachricht auch nicht glauben. Gemeinsam stiegen wir hoch. Viele Tränen, als man ihn über den Schreibtisch gesunken liegen sah. Seltsamerweise war nirgendwo Blut, nur an der Schläfe um das verschorfte Einschußloch herum. Aber die Freundin bemerkte, daß die Todeswaffe nicht da war. „Aber der Revolver fehlt doch!” rief sie. „Hagen ist ermordet worden.” Niemand kam auf die Idee, jedenfalls erst nicht, die Polizei anzurufen. Irgendwer tat es schließlich doch. Ich wurde nervös und dachte: werden die eine Verbindung zwischen mit und E. herstellen können? Natürlich fiel mir sofort E.s Bankkonto ein, das er für mich angelegt hatte, damit ich einigermaßen unbehelligt von meinen Gläubigern blieb. Aber wieso überhaupt sollte E. meinen Bruder ermordet haben, darauf käme doch keiner; deshalb hatte ich E. ja ausgesucht, daß er ihn tötete. E. hatte schlichtweg weder ein Motiv, noch kannte er meinen Bruder bis dahin. Die beiden waren einander sogar niemals begegnet. Völlig ausgeschlossen, daß man drauf käme.
Da fiel mir ein, daß mein Bruder ja sowieso schon lange tot war. Alleine deshalb war eine Verbindung zwischen ihm und E. nicht herzustellen. Aber was, wenn die Polizei merkte, daß es gar keinen Toten gab? Man käme doch sofort auf mich, daß ich mir das ausgedacht hatte.
Die Untersuchung begann. Die Untersuchungsbeamten untersuchten den Dachboden auf Spuren, die Spurensicherung war da, die Trauer im Haus blieb ganz so erhalten, als wäre mein Bruder wirklich ermordet worden. Seine Freundin weinte von früh bis spät. Ich begann, mich isoliert zu fühlen, ich begann, Angst zu bekommen. Käme heraus, daß es einen solchen Mord gar nicht gegeben hatte, daß er rein meine Erfindung war, die Folgen wären noch um vieles schlimmer, als hätte da wirklich ein Toter gelegen. Denn sie sahen den Toten ja offenbar da liegen, ich hatte ihn in die Welt gedacht; ich hatte, aber da klingelte der Wecker, sozusagen ein doppeltes Schwerverbrechen begangen. Am größten war meine Panik aber, als mir bewußt wurde, daß die Bank E.’s Konto jetzt schließen würde, daß ich jetzt bald überhaupt nicht mehr würde handeln können.
Es brauchte einige Zeit bis ich mich aus dem Traum übern Halbtraum endlich ins Wachsein hineinwälzte. Und aufstand, um zu tun, was jetzt zu tun ist: vor allem die Schultasche meines Buben packen, der sie zehn vor acht hier herausholen wird. Um 9.27 Uhr geht meine S-Bahn zum ICE. Es ist keine Eile.

Seltsamerweise habe ich das Gefühl, daß dieser Traum von dem Kinderbuch bewirkt wird. Vielleicht muß ich etwas aufmerksamer beim Schreiben sein, vielleicht teile ich in dem Buch mir selbst etwas mit, das mein Unbewußtes längst erfaßt hat und jetzt als eine erste Warnung ausinszeniert hat. Wie auch immer. Erst mal die viereinhalb Kapitel für den Verlag fertigschreiben und dann am Mittwoch, wie geplant, wegschicken. Danach >>>> Danz weiterschreiben. Vielleicht schaff ich heute morgen noch die letzten Exzerpte, dann muß ich die Bücher nicht mit in die Serengeti nehmen.
Guten Morgen, Leser. Bin immer noch etwas benommen von dem Traum. Ich brauche sofort den zweiten Latte macchiato.

7.39 Uhr:
[Bach, Erste Suite für Cello solo.]
Sò, alles übertragen; nur der >>>> „Türmer” fehlt noch, weil das Buch bei der einen Sprecherin liegt. Abgesehen davon also „stehen” die Original-Texte jetzt, und ich kann die schon mal an beide Sprecherinnen hinausmailen, damit sie sich vertraut machen.
Gleich kommt mein Bub. Du fängst an zu pubertieren, Sohn; na, das wird noch spannend werden.

8.13 Uhr:
[Bach, Zweite Suite für Cello solo.]
Auflachend (jaja, Pubertät… mit neun!): „Papa, ich finde, Mama übertreibt es etwas…” Es ging darum, daß Du Dir, weil es so kalt geworden ist, was Warmes anziehen solltest. Junior, es ist wirklich nicht mehr die Jahreszeit, nur mit T-Shirt und Deiner leichten Jacke rumzulaufen… jaja, ich weiß ja, daß Du sie liebst. Aber was hast Du davon, wenn Du krank wirst?
(Er war eben echt empört. Als ich kurz vorher drüben anrief, kam die dicke Luft direkt aus dem Hörer.) Während ich unten an der Haustür auf Dich wartete, mit der Löwin telefoniert.

Hab noch schnell für die Typoskript-Arbeit meine Danz-Exzerpte ausgedruckt. Nehm ich mit.

[Bach, Dritte Suite für Cello solo.]

11.33 Uhr:
[ICE Leipzig-Nairobi.]
In Leipzig umgestiegen. Bis dahin in den Cervantes-Novellen gelesen, die von wunderbarer Klarheit sind: die eine zuende, die andere angefangen. Den Laptop aufzubauen, alles hochzufahren usw., wäre ein zu großer Aufwand gewesen für die kleine Strecke. Jetzt aber wird gearbeitet. Fand aus den Phasen, in denen ich keine Post öffne, eine noch umverschlossene Händel-Sendung UF’s, für die ich mich hier jetzt mal nachträglich bedanke. Rodelinda. Radamasto. Rodelinda hör ich nun bei der Arbeit. Die Löwin ist, SMSte sie soeben, gerade in München in den Zug gestiegen; sie hatte einen Kuratorinnentermin dort. Mit dem Cabrio hatte sie bei dem Wetter nicht fahren mögen. Nun werden wir ungefähr gleichzeitig in Nairobi ankommen. Ich habe am Gesundbrunnen Maroni gekauft.
So, Kinderbuch.

9 thoughts on “Arbeitsjournal. Montag, der 30. November 2009. In die Serengeti.

    1. @Schneiderin. der latte macchiato (“il”), was in diesem Fall auch gar nicht problematisch ist, weil es auch “der Milchkaffee” heißt; dennoch, ich tendiere insgesamt dazu, das Geschlecht von Leihwörtern aus den Ursprungssprachen zu übernehmen, – auch dann, wenn der “normale” Gebrauch es anders hält.

      (Besten Gruß aus soeben noch Leipzig.
      ANH.)

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