Arbeitsjournal. Mittwoch, der 3. März 2010. Mit Cotzees schlimmem Tagebuch und einem vierten Brief an Melusine.

5.59 Uhr:
[Ilg, Otello (Kopfhörer).]
Latte macchiato, Morgenzigarette, seit halb sechs Uhr auf. Die Zimmerstehlampe, aus dem Erbe meiner Mutter, ist plötzlich defekt. Also halbdunkel (die Deckenlampe ist schon seit drei Jahren defekt). Ärgerlich. Egal. Ich will die CD-Kritik endlich zuendeschreiben. Auf Selbstgedrehte umzusteigen, führt abermals zu gelben oberen Fingergliedern. Also damit hör ich wieder auf. Pfeife zur Morgenarbeit, macht eh weniger Schmutz. Ich muß mal wieder das Netzfunk-Modem wechseln, hin und her zwischen Expreßcard und USB; es hat sich als sinnvoll erwiesen, beide Modems zu behalten, weil nach einiger Zeit (einigen Tagen) eines immer rausgeworfen, das andere dann aber erkannt wird. Wechselseitig. Ah, sehen Sie? Bin wieder drin.

Aus Wien kam die Nachricht per SMS, ich solle mir keine Sorgen machen, der Prozeß laufe gut. Sie komme, die Löwin, spätestens am Ende der Woche zurück, stehe aber unter ständiger Bewachung, weshalb sie nicht telefonieren könne. Wobei die SMS nicht von ihrem Mobiltelefon abgeschickt wurde, sondern von einer fremden Nummer, die ich dann meinerseits nicht anrufen wollte. In den Zeitungen, soweit ich welche im Netz fand, steht nichts.
Bis knapp nach Mitternacht mit dem Profi >>>> in der Bar gewesen; er hatte von B., die an mich dachte, einen Haufen Edelhemden mit, die alle paßten, sowie ein Jackett, dem man die 100 % Seide nicht ansieht, sehr wohl aber -fühlt. B. habe gesagt, das passe Alban, das sei für ihn. Auch Krawatten. „Gut doch, oder? Du hast doch gesagt, daß deine ganzen Hemden zerfallen.” Na gut, nicht alle, aber viele, wobei man darüber nach bisweilen 25 Jahren auch wirklich nicht schimpfen darf, anders als bei dieser Stehlampe; meine Augen vertragen kein Halbdunkel mehr, weil sie darin nur noch schlecht sehen. Ich werd mir was mit Neonröhren überlegen; Halogen-Lampen geben bei mir alle nach ein- bis anderthalb Jahren den Geist auf; warum, weiß ich nicht. Nein, n i c h t die Birnchen („Leuchtmittel”), so klug bin ich auch. Sondern diese Verteilerdosen. Immer.
Klingt aber motzig, mein Eintrag heute früh… Vielleicht, weil ich weiß, daß ich nachher, wenn dir Kritik geschrieben ist, die ganzen Briefe öffnen muß, wovor mir etwas graut. Und seit dem Frankfurter Wochenende hab ich einen gehörigen Muskelkater in der linken Wade. Kann mir mal wer erklären, weshalb? Das tut richtig weh. Irre. Mit dem Fahrrad fahr ich trotzdem, schon aus Trotz.

(Mittags kommt mein Bub; ich habe, bevor ich eben an den Schreibtisch ging, schnell noch einen Pudding gekocht. Witzig. Um Viertel vor sechs. Eine Blutorange geschält und in Stückchen mit hineingerührt.)

Ah! Grad fängt die Musik an, mir gute Laune zu machen. Sò, zweiten Latte macchiato, dann ans Werk. Um neun will Αναδυομένη hereinschauen. Wär gut, wenn ich dann schon fertig wäre mit der CD-Kritik.

Oh, ich sehe soeben, daß da >>>> eine lange Post vom Seegrund aufgestiegen ist. Ich werde sie aber erst später lesen und noch später erst antworten. Überhaupt ist gestern noch einiges in Der Dschungel vorgefallen, um das ich mich aber ebenfalls erst nachher kümmern kann.

8.03 Uhr:
So. Die Kritik steht. Ich druck sie auf Papier aus, lese nochmal, korrigiere, laß sie bis zum Mittag „abhängen”, korrigiere abermals, übertrage die Korrekturen und schicke dann ab. Nun will ich mich bekleiden.

8.58 Uhr:
[Verdi, Otello (Otello in Barcelona: Rahbari).]
Wobei, selbstverständlich, Karajans Einspielung mit Jon Vickers Referenz bleibt.

16.06 Uhr:
Den vierten >>>> (Antwort-)Brief an Melsine geschrieben und eingestellt. Jetzt ans Cello, um 18 Uhr zur Familie; लक möchte ins Kino gehen. Kinder„dienst” also. Morgen auch, da will sie durch die Clubs. Was dann spät, also früh werden wird. Ich hab genügend Arbeit, die ich mit Ans Terrarium nehmen kann. Die wichtigen Konzerte sind erst am Wochenende; es wäre schön, wenn es mit >>>> Barenboim und Mahler III und der herrlichen Waltraud Meier klappte; o b, hängt vom leiblichen Vater der Zwillingskindlein ab. Bis der sich gerührt hat (wenn er sich denn rührt), kann ich keine Karten bestellen. Und ginge doch so gerne hin mit meinem Sohn.

(Die Post ist noch immer nicht geöffnet; vielleicht pack ich sie nachher in den Rucksack und nehme sie mitsamt dem Brieföffner hinüber.)

22.07 Uhr:
[Am Terrarium.]
Hab mich in Cotzees >>>> Tagebuch eines schlimmen Jahres festgelesen, das ich bislang, vor allem im politisch-Gedanklichen, vorzüglich finde: – ein ganz anderes Kaliber als das hochgepriesene, aber erzählerisch ausgesprochen plane Schande. Fraglich jedenfalls, ob er auch dafür den Nobelpreis bekommen hätte. Zumal die in Schande drunterlaufende, entsetzlich protestantische Prüderie bislang fehlt; allenfalls könnte man das bisherige Bild der popowackelnden Fillipina ein bißchen flach finden: aber es ist mit Ironie vorgebracht, nicht mit der klebrigen, handlungsunfähigen Larmoyanz dieses anderen „Helden”. – Eigentlich müßte ich arbeiten, aber ich will weiterlesen.
22.41 Uhr:

Dafür den Nobelpreis?

Es braucht nicht mehr viel, und Australien rutscht ab in den gleichen Zustand wie [US- {erg.: ANH}]Amerika, wo Menschen aufgrund von Denunziationen durch Spitzel („Quellen”) einfach verschwinden oder wo man sie aus der Gesellschaftr verschwinden läßt, und wo das Öffentlichmachen ihres Verschwindens selbst als Straftat gilt.

Nein. Dafür sicher nicht.

11 thoughts on “Arbeitsjournal. Mittwoch, der 3. März 2010. Mit Cotzees schlimmem Tagebuch und einem vierten Brief an Melusine.

    1. naja herr herbst ich würde ihnen raten, sich hier nicht zu blamieren. “Schande” wurde nicht trotz oder wegen der weigerung, die erotik ins hauptzentrum einer Erzählung zu stellen, für den nobelpreis nominiert, sondern dafür, dass der roman das Thema des backlashs in oder nach einem äußerst schwierigen gesellschaftlichen wandlungsprozess beschreibt und das ziemlich herrausragend zudem verknüpft mit demVerhältnis von Dispositiven der Herrschaft in archaischen und “modernen” Strukturen. Zudem geht es um einen exemplarischen Generationenkonflikt. Ich sags nur, bevor sie sich noch mehr disqualifizieren.

    2. @Schande. Was Sie da schreiben, daß ich’s geschrieben oder behauptet hätte, steht bei mir nirgendwo. Ich kann nix dafür, wenn Sie Ihre Vorurteile lesen – aber seien Sie gewiß (Ihr “Nick” paßt zu Ihnen ja gut), daß die Blamage sicher nicht an mir heruntertropft oder gar kleben bleibt.
      Ja, Cotzee hat den Nobelpreis ganz offensichtlich für ein Thema bekommen, für die Kunst seiner Darstellung hingegen gewiß nicht; es sei denn, auch dort in der Jury tanzt die Sozialdemokratie, sie spätestens mit Schröders Schlterschluß mit einem Völkermörder ihrerseits von Schande gezeichnet ist, ihre ästhetisch peinlichen Polkas. Doch abermals, wie gesagt: Cotzees Tagebuch-Buch hat ein völlig anderes Niveau, gedanklich, nicht etwa erzählerisch: in d e r Hinsicht steckt ihn jeder Ishiguro in die Hemdbrusttasche.

    3. ja, eine tragische Schwäche vieler Schreiber, dass sie nicht erkennen, dass Literatur nur an einem lebensweltlichen (lebens/weltlichen= überprivatem) thema wirklich groß wird. Und nicht an Präziosen, Satzgedrechsel, Interpunktion und neckisch “Gekonntem”

    4. Wie Sie meinen. Göttinseidank haben die Göttinnen vor solche wie Sie die Nabokobs, Flauberts, die Pynchons und Marianne Fritzens und sogar – mich gestellt. Und es gibt viele weitere, die mir verzeihen mögen, daß ich sie hier nicht nenne, sondern rein private Vorlieben zum aber auch nur stellvertretenden Maßstab mache. Es ist ja doch beruhigend, wenn man so zurückschaut, wie gerecht die Geschichte meistens verfährt, so um die hundert Jahre und dann nochmal hundert Jahre später. Zu denken an den “neckisch Gekonnten” Kleist; auch Hölderlin ließe sich anführen, der Satzdrechsler, gell?

    5. hören sie anti.h. ich könnte ihnen schon wieder eine auf die zahl geben wollen, wie sie das bloss schaffen steht auf ihrem plan, klar mache einen plan …
      so lernen sie wirklich nix immer schön und sufferähn rausgehn wa ?
      und kiffer dabei noch anwixen wenns dramaturgisch irgendwie passt.
      ich habe mich heute mit einer art ehrlicher noblesse verabschiedet ( stilistisch )
      und wenn sie das stilistisch nicht peilen dann was solls.
      hätten sie mich gefragt so hätte ich ihnen geantwortet genau das ist gut wie sie natur petisch beschreiben können ohne kühlschränke oder irgendwlches techniksprachmaterial – womöglich noch ohne die klage übers reagenzglas incl.
      einem dadurch angeblich ( gefühltem ) versperrten zugang zu lust und zeugung aber und und und – da wären sie der meister – und nicht da was ihnen c. so flötet obwohl.
      sie sehen, dass ich schon wieder konziliant einknicke und das steigert wiederum ihr selbstbewusstsein.
      usw.

    6. die hohe Literatur entsteht,wenn lebensweltliche ergriffenheit und gekonntes zusammenfällt, bei Coetze – ebenso wie bei hölder oder kleist – ganz offensichtlich der fall.

    7. die szene wo mann immer gleich jenseits der puffs ne zunge in’s maul geschoben bekommt
      genau diese szene – hm ich erinnere mich ans p1 seinerzeit – komme stoned an wie ne tusse, x die mir den kasten ausgab und souverän fuhr lachte nur noch – naja ich war damals echt übereifrig am nietzsche lesen por favor und die seppls am eingang wollten nur sie reinlassen was mich adhoc etwas stutzig werden liess – nun ich dachte frauen mangel naja – sowas auch schon mal am promiautomaten 90° Berlin
      erlebt – tut nix zur sache irgendwie.
      minibar berlin das wars echt damals immer volltreffer, sporadisch.

    8. @Schande. Cotzee ff. Bei Ihrer letzten Grundaussage sind wir vollkommen einig; für Schande trifft es, nach meinem Geschmack & Urteilsvermögen, nur eben nicht zu. Für Hölderlin und Kleist trifft es zu – ich habe mir allerdings erlaubt, darauf aufmerksam zu machen, daß, wie sehr es zutrifft, zu deren Lebzeiten nicht erkannt worden ist. Es gibt allen Grund zur Annahme, daß sich solches Nicht-Erkanntwerden ständig wiederholt; es gibt keinen für die Annahme, es stehe damit unterdessen anders.
      Und wohlgemerkt: Ich finde Schande ja kein schlechtes Buch, es ist für den politischen Gebrauch ganz nett; einen Nobelpreis rechtfertigt es allerdings nicht. Dazu ist es in anderer Hinsicht als der eines Versuchs, jüngste Vergangenheit und Schuld “aufzarbeiten”, zu verkniffen, ja verkorkst beinahe: eben das spiegelt seine Sprache. Da mir nun aber das neue, das Tagebuch-Buch Cotzees bislang sehr gut gefällt, habe ich keine Lust mehr, den Verriß zu schreiben, den ich eigentlich schreiben wollte. Das Tagebuch-Buch wetzt die ästhetische Schuld des Schande-Buches aus.

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