Das Arbeitsjournal des 27. Junis 2010. Sonntag. In Berlin und in Paris. Noch immer in Paris. Mit einer Bemerkung zu Guillermo Groizard.

>>>> Les secrets de Paris 10

9.03 Uhr:
[Arbeitwohnung.]
Ich habe noch einen Film gucken müssen nachts, wollte aus der Erzählung fort >>>> nach dieser Apotheose, nicht weil mir nichts Weiteres mehr eingefallen wäre, nein, ich weiß genau, wie es jetzt weitergeht, nur noch die die Reihenfolge, in der ich Ihnen die letzten Reiserlebnisse schildern werde, mit denen sich bereits die neuen Berliner Geschehen verklammern. Sondern weil ich nichts mehr „draufsetzen” wollte gestern nacht, weil das letzt Bild in der Sainte Chapelle nicht stören wollte, aber auch weil ich erschöpft war. Lange telefonierte ich noch mit der Löwin, es war schon halb eins oder eins, sie mochte schlafen gehen und schickte mich zärtlich in das Kino DVD. Seltam war, daß ich mir einen Film besorgt hatte, den ich schon einmal gesehen habe; ich wußte es nicht und sah nun diesen sehr gut durchdachten Film ein zweites Mal, >>>> Guillermo Groizards Projekt 2, der auf seine Thrillerweise zugleich ausgesprochen sensibel die Frage stellt, was ein Mensch s e i. Ich las eben eine Kritik dazu, auf die ich nicht verlinke, weil ich sie unrichtig finde; wer Interesse hat, kann selbst suchen. Sie will zu konsumieren verpackt haben, was Groizard bewußt in der Schwebe hält, wofür er eine „Erklärung” – im ästhetischen Sinn: „Ausführung” – gerade vermeiden muß, wenn er gerade auch innerhalb eines actionreichen Filmes ein poetisches Rätsel wahren will. Ich habe beobachtet, daß es solche Rätsel in spanischen, südamerikanischen und französischen Spielfilmen sehr viel öfter gibt als in US-amerikanischen, deren technischer Perfektionswille alles immer geschlossen haben will, geschlossen, um dem Betrachter das Gefühl der Macht zu vermitteln, er habe die Dinge im Griff. Genau das ist die Ideologie der positivistischen Weltverfügung: der Freiheit, deren Ontologie sie politisch behauptet, wird, weil das die Leute befriedigt, nämlich ästhetisch befriedet, wird ästhetisch der Hals umgedreht.
Ich rufe jetzt die Löwin an. Dann beginne ich, bis zum Mittag das Ende der Paris-Erzählung zu schreiben. Der Nachmittag gehört meinem Sohn. Vielleicht schreibe ich dann am Abend noch weiter. Guten Morgen.

12.42 Uhr:
Das erste der noch verbleibenden Kapitel ist fertig, >>>> dort. Ich will jetzt mal duschen, mich herrichten, während ich über das nächste nachdenke, daß ich vielleicht auch noch zu schreiben schaffe, bevor ich um 15 Uhr meinen Jungen und seine Freundin treffe, um mit ihnen den Nachmittag zu verbringen. Mal sehn, was wir tun, er schlug vor, Tischtennis zu spielen. Ich machte lieber einen Ausflug, vielleicht auf ein Boot. Sowas.
Aber ich bin so in dieser Geschichte drin. Bin wirklich immer noch in Paris.

19.25 Uhr:
Vom Nachmittag mit meinem Jungen zurück; während die Kneipen und Kneipenterrassen voller Fußballübertragungen waren, spielten wir Tischtennis. Er mochte gar nicht aufhören. Vorher jeder ein riesiges Eis, zum Abschluß Pommes und Hamburgers. Überall liefen die Fernseher, die Leute hingen karnervalesk davor, ich kam damit ganz gut klar, bis auf die Schreier und Tröter und die „Deutschland”-Skandierer, die nach dem gewonnenen Spiel durch die Straßen krawallten. Das ist mir nach wie vor körperlich unangenehm, mit allem anderen komme ich unterdessen klar. Allerdings bekam ich von einem einen Schock: daß nach dem Singen der deutschen Nationalhymne ein brandendes Klatschen losging. Und hinterher „Wir lieben deutsches Land! Wir lieben deutsches Land!” Schon, daß in der Nationhymne immer noch das Wort „Vaterland” vorkommt und keiner mehr zu merken scheint, wie peinlich und quälend das ist, macht mich zu einem Fremden. Im Ausland quält mich die Nationalerei nicht, auch wenn sie nicht minder dumm ist; aber dort gehöre ich nicht dazu und trage also keine Schuld daran. Hier habe ich immer Mitschuld, auch wenn ich unterdessen schweige und nicht einmal mehr, wie Erich Kästner tat, die Hände in den Hosentaschen balle.
Mein Problem jetzt ist: ich weiß vor lauter Fremdheit und Abgestoßenheitsgefühl nicht, wie ich wieder in die Erzählung kommen soll. Der Fluß ist weggebrochen, nein, weggetreten, wegskandiert. Vielleicht hol ich mir eben von der Ecke drei Bier und trinke das einfach weg. Ich will aber nicht, daß mir mein schlechtes Gefühl die Geschichte zerstört. S o gesehen, hätte ich zuhausebleiben müssen, aber wiederum wollte ich doch unbedingt meinen Jungen sehen und mit ihm sein. Jetzt ist er drüben bei seiner Mama, macht sich sauber, bereitet sich für morgen vor, wenn seine Klassenfahrt beginnt. Ich hole ihn um Viertel nach sieben ab, damit er sein Gepäck nicht alleine schleppen muß. Außerdem freue ich mich, daß ich bei ihm sein kann, wenn er abfährt. Wir hielten uns vorhin minutenlang im Arm.

>>>> Les secrets de Paris 10

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