Nach einer langen Lesenacht: Das Arbeitsjournal am Donnerstag, dem 8. Juli 2010. Benjamin Stein vor Der Finsternis Kindern. Niebelschützens, nämlich, Über das Salz. Wie schließlich, bis in die Nacht, der Abend war.

7.59 Uhr:
[Arbeitswohnung.]
Nein, ich bin gestern nacht nicht mehr in diesen Stripschuppen abgezogen; ich weiß nicht, was mich warnte, aber es gab da etwas, das über den ganzen Abend in mir alarmiert blieb. Da sich dann aber auch M. nicht mehr meldete und am Mobilchen unerreichbar blieb, las ich Steins Die Leinwand weiter. Und weiter. Und bis zum Ende, das in der Mitte des Buches steht. Inwiefern dort, will ich nachher schreiben. Wobei offensichtlich schon derart viel über das Buch geschrieben worden ist, daß ich versuchen will, einen sehr eigenen Zugang der Rezension zu finden, ohne daß ich nun vorher alle anderen Rezensionen läse; eigentlich will ich gar keine lesen – außer ein paar Zitaten, die sich auf Steins >>>> Turmsegler finden, wo ich heute früh schon >>>> einen höchst empfehlenswerten Artikel zum Koran las, den Chaim Noll verfaßt hat. Mir ist dabei etwas aufgefallen, etwas, das mit den auch dort betonten Fähigkeiten des Poetischen zu tun hat, über das ich an anderer Stelle öffentlich nachdenken möchte, und dies durchaus schon als eine Vorarbeit zu meinem FRIEDRICH-Projekt..
Es war ruhig nach halb elf abends, geworden, nach dem von mir aus katholischen Gründen begrüßten Spaniensieg, der zu einem von mir aus emanzipativen Gründen favorisierten Endspiel Wilhelm ./. Philipp führen wird. Keine Tröten gingen mehr, und keiner schrie mehr „Schland!” Was mich schon >>>> abends im Daye ein wenig geödet hatte, waren die Vorherhuldigungen, die der Fernsehsprecher den deutschen Spielern entgegenbrachte: es sei schon jetzt klar, daß „die Deutschen” den besten Fußball aller Nationen spielten und was dergleichen, für „Sieger”, Peinlichkeiten mehr sind. Das mit dem „schon jetzt” ging dann ja auch gründlich schief. Deutschland schwächle, las ich heute früh. Ich finde das gut. Sollte mir nun jemand vorhalten, daß ich kein rechter Vaterländer sei, so hat er recht: ich habe keinen Vater als Land, und meine Mutter ist Europa.

Also >>>> „Die Leinwand”, nach der ich nachts noch, als ich lag, zu >>>> Niebelschützens „Die Kinder der Finsternis” griff und sofort, abermals, jedes Mal neu, von dieser S p r a c h e wie weggerissen war. Das geht schon auf der ersten Seite los:

Fünf Stunden donnerten die Gießbäche, Felsen und Schuttlawinen: die Bergflanke bebte. Fünf Stunden kauerte die Geliebte neben dem Gehaßten, unverletzt, naß bis zur Haut, frierend, obwohl es warm war. Fünf Stunden schrien und keilten hufoben die Mulis und rüttelten durch das verknälte Geschirr den Wagenkasten, der ohne Räder hintüber auf dem Steinmeer saß, bedeckt von grauenvoller Dunkelheit.
Aber ich fang mal mit meiner Rezension von Steins Roman an, ich hätt sie heute gerne fertig.

15.27 Uhr:
Inspirierter Briefwechsel mit >>>> Benjamin Stein bezüglich einer Lesart seines Romans, von der er merkte, wie angelegt sie in dem Buch ist, was er dann so spannend fand, daß er mich herzlich zur Eile trieb. Aber je mehr ich von meinen Unterstreichungen, Anmerkungen, Verweisen in dem Buch in die Notate-Datei übertrage, desto deutlicher wird, wie kompliziert es wird, über den Roman so zu schreiben, daß Sie einen angemessen guten Eindruck bekommen, um das Buch >>>> schnell zu kaufen (das sollten Sie nämlich, unbedingt), selbstverständlich um es auch zu lesen… aber ohne, daß ich schon allzu viel von der Geschichte verrate; ich hin doch kein Schwanitz bei Eichborn, der Sie genugsam readerdigest, um Sie fern jeder Quellenkenntnis mitquasseln zu lassen. ’tschuldigung, aber muß auch mal gesagt werden.
Bei meiner schönen Fußpflegerin Niebelschütz weitergelesen, von halb bis Viertel nach drei:

In jenen Apriltagen des Jahres 1115 blickte Kelgurien gebannt in den Himmel hinauf und flehte in Bittprozessionen ohne Zahl, er möge die Wolken abziehen, den Schlammfresser nicht bringen, die Kare trocknen, die Furt nicht überschwemmen, die Kelgurische Nachtigall hindurchlassen. Nicht nur der Hirt, alle, Kind, Weib und Greis, Herren und Knechte, Ritter und Jude, horchten mit dem Entzücken der Verhungernden auf das Mahlen und Knirschen und Ächzen hinter den Horizonten, Musik der Kaufmannswagen, die, bis unter die Planen gefüllt, auf ungefügen Scheibenrädern ihre Last heranbrachten von fernher – Salz, Hirse, Bohnen und Korn; Salz, Roheisen, Leder und Waffen; Salz, Feuerstein, Zunder und Tuche; Salz, Salz und Salz. Salz war ihre Nachtigall. Salz was das Kostbarste, was da herbeischwankte auf monatelanger Reise: weder Vieh noch Mensch konnte leben, weder Mensch noch Vieh sterben ohne Salz. Man brauchte es für das Fleisch der Herden, wenn man sie schlachten mußte auf den Fliehburgen, brauchte es für die eigenen Gefallenen, salzte sie ein in den Türmen und bestattete sie nach überstandener Gefahr unverwest zur Erde; Burgen hatten nur Stein.
Das ist von derartiger Erzählkraft; die Löwin bat mich vorhin, als ich ihr am Telefon vorlas, immer mal wieder etwas mehr von Niebelschütz einzustellen. Ist ein bißchen Tipperei, aber ich komme dem nach. Hab ich schon erzählt, daß ich diesen Dichter l i e b e? Und daß ich gepflegte Füße liebe? Ja, das gehört zum Geist. Weshalb auch zehn Minuten Sonnenstudio fällig waren, eine Woche lang jeden zweiten Tag zehn Minuten, dann ist es gut: und man sieht nicht in diesem herrlichen Sommer nach einem Schreibtischhocker aus, der man in Arbeitszeiten doch die meiste Zeit ist. Wem meine Eitelkeit eignet, der muß sie inszenieren, sonst bekommt er ein unnötig schlechtes Gewissen, das einen dann zusätzlich blaßmacht.

Um 20 Uhr treffe ich den >>>> Elfenbein-Verleger wegen der BAMBERGER ELEGIEN.

NACHTRAG:

Das Treffen.
[Elfenbeiner Elegien]

18 thoughts on “Nach einer langen Lesenacht: Das Arbeitsjournal am Donnerstag, dem 8. Juli 2010. Benjamin Stein vor Der Finsternis Kindern. Niebelschützens, nämlich, Über das Salz. Wie schließlich, bis in die Nacht, der Abend war.

    1. Was sonst! Das habe ich nicht mitbedacht!
      Das wäre ja ein aufgemachtes Fass in einen anderen Phantasieraum.

    2. Wie bedauerlich dieses so schön mögliche Mißverständnis aufzuklären. Bitte denken Sie auch an Menschen wie mich! Menschen die sich so wunderbar amüsieren können, über die zum Teil so herrlich dämlichen (was für eine interessante Wortkombination) Kommentare. Sie verderben einem ja direkt die ganzen Spaß 😉

  1. Rezensionen lesen Ich halte es übrigens genauso, wenn ich (z.B. auf http://cultureglobe.de – aber nicht nur dort) über Theateraufführungen schreibe, lese ich niemals, was andere geschrieben haben, nicht, was mir das Theater über die Pressestelle mitteilt, gar nichts (außer vielleicht die Lebensdaten des Autors oder der Autorin). Nur das Stück selbst soll sprechen. Nichts anderes.

    1. @read An. Das gibt es, ja. Ich habe das einige Zeit lang mit ziemlichem Genuß praktiziert, der sich dann in wirklichen Treffen – sofern die Pheromone aufeinanderstimmten – ziemlich heftig realisierte. Es gibt sogar Paare, die ihre Inszenierungen ausschließlich über das Netz ausleben, wobei die “Befehle” auch umgesetzt und per Foto etwa, oft auch per Webdam, dokumentiert werden. Das spielen besonders gerne anderweitig Gebundene, die ihre auf Realisierung drängenden Fantasien, aus übrigens vielerlei Gründen, in ihre Partnerschaften nicht einbinden können. Übers Netz leben sie sie aus, ohne de facto “untreu” zu werden. Als ich vorhin bei Ihnen “Befehl” las und weil von mir bekannt ist, Verbindungen zur BDSM-Szene zu haben, hielt ich >>>> meine Richtigstellung für nötig; ich steh ja sozusagen unter Überwachung, und es gibt Leute, denen es nichts ausmacht, Dritte mit hineinzuziehen, wenn auch mir das schadet.

    2. Ich weiß, und ich dachte auch, als ich die erste Zeit in die Dschungel eintauchte und mich hier noch nicht auskannte, dass das hier so praktiziert wird hin und wieder, aber dabei auch latent bleibt. Dass ist es auch was einen so böse bis auf´s Blut macht, diese Kontrolletties, diese dummdreisten Angriffe von Außen, übergriffig ist das.
      Das macht einen dann selbst zu einem Kontrollfraek, der versucht den Kontrolleur zu kontrollieren, das kann extrem werden.

    3. @read An (ff). Bisweilen w i r d das so wohl auch gespielt in Der Dschungel; >>>> Vergil scheint mir dafür ein Kandidat zu sein. Ich selber halte mich mit so etwas in Der Dschungel lieber zurück, es gibt ja genügend andere und weniger indirekte Foren; ich brauche ja immer Erde und Haut. Zu Anfang Der Dschungel spielte allerdings auch ich hier tüchtig herum, aber ich begriff schnell, daß ein an der Börse gelerntes Gesetz auch hier gilt: der Croupier spielt nicht selber, jedenfalls nicht an dem Tisch, an dem er die Kugel wirft.

  2. Das sind sie! Diese geistreichen Dialoge zwischen Registrierten. Dialoge, die sich in luftige literarische Höhen aufschrauben, uns Leser bewundernd zurücklassend, uns demonstrieren, wie es hier sein könnte, ohne Gestammel, ohne Sinnentleerung, ohne Schäbigkeit. Man spürt, von dieser augenzwinkernden Sprache weggerissen zu werden. Mehr, mehr, denkt man sich und hofft still.

    1. @Henze: So viel Essig war im Wein? Daß Ihnen die Schabe auf dem Sinn liegt und auch nicht weichen mag, wenn jemand Licht macht? Ah, lieber Henze: ah! Und kein Wort zu Niebelschütz, kein Wort zu Stein, ja nicht einmal eines zur Eitelkeit, geschweige zum Thema, das es hier wurde.

    2. potrebbe essere una contaminazione tra inconsciamente e sconciamente. -ona come accrescitivo. ma ha dell’improbabile. Also das mit dem Stamm und dem sich anschließenden -mente. Es ginge sonst wieder in Richtung einer Sinnverwirrung, die zu erreichen zwar erlaubt, aber immer so anstrebenswert, wie das Mehr des still auf das Meer Hoffenden, in welches er ersteres versinken läßt. Indes aber sind wir doch wieder unterwegs gewesen.

    3. @ANH Velocemente (veloce+mente) bzw. rapidamente (rapido+mente), bevor’s untergeht: e bleibt e, und o wird a. Mein TB hat sich zerfranst: Ablenkungen. Also morgen.

    4. @ANH Hierzu wollte ich eigentlich noch viel mehr schreiben aber ich komme im Moment nicht dazu.

      Generell: Sie sollten Ihren “Dritten” mehr Verbissenheit zutrauen!
      Verzeihen Sie mir den innewohnenden Witz aber ich meine es ja ernst.

      Ich fand nämlich die Zähne der Medusa im Stein geborgen, da ich mich
      immer gefragt habe was mit ihren Zähnen passiert ist.

      Eigentlich schrecklich schön.

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