Die letzten Tage 93

Eine selten klare Sicht auf alle Berge, die in den Gesichtskreis traten, nicht nur auf den Einen. Besonders dann, als wir, um die Flaminia zu erreichen, von hier aus Richtung Narni in die Senke von Terni hinabfuhren, in deren Osten und Süden es sich dann nur noch türmt apenninwärts. Die Sonne schon im Niedergange begriffen, also eher schon früher Abend im Sonnenlicht, der uns am Ufer des Piediluco-Sees entlanggehen ließ. Leider probte anfangs noch eine Rockband für das spätere Konzert. Aber es kam kein Echo vom Kegelberg gegenüber, auf der die Madonna des Echos steht. Man sieht etwas Weißes oben auf der Spitze zwischen den Bäumen. Unterwegs erzählte sie mir wieder von Rechtsanwaltsgeschichten, eine neue war ihr ins Haus geschneit. Das Schöne dabei ist: dem folgt nie Larmoyanz oder Weltuntergangsstimmung. Ich bin das Gegenteil gewohnt gewesen. Das eine Mal beim Geometer, um über die Arbeiten am Haus zu sprechen. Da hatte sie sich in Schwarz gekleidet, das Gesicht eine Maske. S. hingegen in Sommerfarben und mit Perlenkette. Ich weiß, die sozialen Hintergründe sind grundverschieden, was aber auch nur ein a posteriori. Leider blieb nach dem Besuch der Kirche (gleich drei Fresken mit einer Madonna auf dem Thron) keine Zeit für Fisch aus dem See. Außerdem dräute ja der Beginn des Rockkonzerts. Um zehn würde nämlich der Wasserfall von Marmore die Wasserhähne abdrehen, weil er nach Uhrzeiten funktioniert. Fällt er nicht den Blicken preisgegeben, erzeugt er Elektrizität. Es ging auf die Dunkelheit zu, die Ebene unten verschwand im Gleißen der untergehenden Sonne in den Augen. Eintritt 7 Euro. Gadgets mit „165 m“ darauf. Also wohl die Höhe des Wasserfalls. Enorme Entfernung zwischen „Biglietteria“ und Eingang zum Wasserfall. Dazwischen Bars, Geschäfte, Restaurants, Cafés und Schlager aus den 60/70ern, daß ich kurz auflachen mußte. Die gesunkne Sonne bestralte noch das hohe schuppichte Gewölk (Stolberg, Die Insel) in dem Ausschnitt, den Anhöhen dann eben doch gezwungen, freizulassen, so dicht sie beieinanderliegen oder -gehen mögen. Wasserdampfzungen. Beginnendes Frösteln. Kalt war’s da gestern abend. Ganz oben die helle Zunge des Velino, die der Einsatz zum Rauschen. Tagsüber kann man auf verschiednen Pfaden noch mehr in das Tosen eindringen. Trotz des Frierens, denn es war ein gemeinsames Frieren, das wir nicht mal mit anderen Besuchern teilen mußten: Das war Belohnung. (Seume, den Wasserfall seinerseits besuchend). Und ein gemeinsames Aufsuchen von Gedankenfluchten danach bei Wein und Panino. Sie stelle sich vor, einfach von Salerno aus die Fähre zu nehmen das nächste Mal, wenn sie wieder mal ihren Vater gepflegt. Nach Sizilien, dann nach Ragusa fahren. Auch nach Dubrovnik wolle sie gern. Daß letzteres auch den Namen Ragusa trägt, fiel mir erst später ein, sagte es aber gleich. Und überhaupt was für ein Tier ich sei nach dem chinesischen Horoskop. Pferd, sagte ich. Da verriet sie ihr wahres Alter, als sie antwortete; ihr Tier sei – und sagte es nicht ohne Nachdruck – „la tigre“, denn der Tiger ist auf ital. weiblich (der Hase ist’s auch, der Fuchs dito). Es stellte sich mithin wieder die Atmosphäre ein, die ich mittlerweile die „unsere“ nennen könnte: freie Nähe. Dieses Wortpaar. – Weckertag ansonsten. Und ein Tag ohne Sperenzien. Stur am Text. Morgen vormittag wird’s dito sein. Am späten Nachmittag kurz zum Supermarkt. Freute mich, als ich meinen Vornamen hörend und mich umdrehend ML erblickte. Sie führe morgen wieder nach Holland zurück. Auf die Frage nach den Kindern: sie habe sie gestern mal gerade 24 Stunden lang gesehen. Beim Gute-Fahrt-Wünschen: ich solle sie doch mal dort besuchen bekommen. Das schönste ist wohl der Wasserfall des Velino, der oben für die ganze Gegend von Rieti schon über zweytausend Jahre eine Wohlthat ist, weil er sie vor Überschwemmung schützt. Ich bekenne, daß ich für zwecklose Pracht, wenn es auch Riesenwerke wären, keine sonderliche Stimmung habe. (Seume) – Darüber wäre jetzt allerdings nachzudenken. Das a posteriori eines a priori. Und negiert die „Belohnung“.

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