Das Reisejournal des 5. Augusts 2010, eines Donnerstags in Amelia.

8.36 Uhr:
[Cortile di Danilo, Amelia.
Dallapiccola: Ciaccona, Intermezzo e Adagio per Violoncello Solo.]

Vor fünf Tagen, liebe Leserin, schrieb ich Ihnen zuletzt. Sie werden es mir gewiß nachsehen, wenn Sie erfahren, daß es so arg viel nicht zu berichten gibt: keine Abenteuer waren, keine jedenfalls nennenswerten Mißgeschicke, dafür war sehr viel Ruhe, Sonne, ich las Niebelschützens Die Kinder der Finsternis auf Eigners Terrasse zuende und dachte, als ich das Buch nachts beschloß: wie ist es nur möglich, einen solch grandiosen Roman zu schreiben. Ich selbst wiederum, vielleicht aus Selbstschutz, schrieb nicht einmal ein Gedicht, obwohl mir, als mein Junge und ich vorgestern in der >>>> Villa Massimo waren, danach war: wann immer ich dorthin wiederkehre, faßt mich ein Heimweh… ja, wenn ich dort bin; ein Nachhausekommen, das ja keines ist, weil ich nunmehr nur immer Besuch bin.

Immerhin, in „meinem” Studio, in der Nummer Sieben, lebt nun >>>> Marcel Beyer, den ich einen sehr angemessenen Nachwohner finde. Ich überlegte ein paar Augenblicke, ob bei ihm klingeln auf ein Geplauder; wir sind zusammen, das muß 1995 oder 1996 gewesen sein, in Schloß Wiepersdorf gewesen, zusammen mit >>>> Ilija Trojanov, den ich danach zweimal in Bombay besuchte, während Beyer und ich uns seit Wiepersdorf nicht mehr wiedergesehen haben. Also klopfte ich nicht, diskretionshalber, könnte man sagen.
Ich erzähle heute nicht der Reihe nach. Ich könnte es zwar, denn ich führe ein handschriftliches Journal –

– ah Moment! Mein Junge steht gerade auf, tritt hier hinein…

8.57 Uhr:
[Elgar, Cellokonzert. In diesen Räumen – es ist, erfuhr ich
gestern von >>>> Lampe, eine ehemalige Kardinalswohnung –
klingen sogar die Laptop-Lautsprecher gut.]

„Guten Morgen, mein Sohn.” „Guten Morgen, Papa. Ich habe geträumt, daß du mich geweckt hast… wie spät ist es?” „8 Uhr 48.” „O ich bin ein solcher Hirni! Wann ist Siesta?” „Sowas ab zwölf, halb eins…” „Siehste! Ich habe geträumt, daß du mich geweckt hast, weil es zwölf sei, weil dann die Geschäfte alle zumachen.” „Dann leg dich doch noch mal schlafen.” „Nein, ich lese jetzt.” „Möchtest du deinen Latte macchiato haben? Hier oder am Bett?” „Am Bett, Papa.” Und schlurft wieder durch den kleinen Gang davon.
Ich bringe ihm den Kaffee, er räkelt sich auf dem Gastbett, hat einen …na ja: Erwachsenen-Comic gefunden und aufgeschlagen; ich gucke besser nicht genau hin.
„Danke, Papa.”

Es ist bedeckt heute früh. Nach dem Essen mit >>>> Parallalie gestern nacht auf dem Cortile (ich habe gekocht, was hier fein geht, Pasta, Sugo di pomodori, verschiedene Antipasti, zum Abschluß Melone; aus Olevano hatte ich von Ernesto, „unserem” Winzer, 1 ½ Litter frisch abgefüllten Cesanese mitgebracht), – also nach dem Essen, Parallalie fuhr gegen Mitternacht heim, hatte ich für morgens den Tisch draußen stehenlassen, weil ich heut früh dran arbeiten wollte; noch später nachts hat ihn offenbar Danilo, der Mitbewohner unseres abwesenden Gastherrn, wieder hereingebracht; er sei sehr ordentlich, hieß es; sei’s also aus Ordnungssinn, sei’s, weil es tatsächlich ein wenig nach Regen aussieht. Deshalb arbeite ich jetzt in der sehr großen, vor allem sehr hohen Küche unter dunklem Cassettengebälk; die Cassetten sind weiß. Was den Regen anbelangt, so hat er uns bisher ein einziges Mal beschieden; die Erde dankte es in Olevano, und unser Zelt hielt perfekt dicht: nachts ein irres Geprassel auf die Planen. Ansonsten Sonne. Und ein bißchen Fahnenkorrekturen; längst nicht so viel, wie ich mir vorgenommen hatte. Die Zeit fließt langsam dahin; führte ich nicht mein Handschriftsjournal, ich wüßte schon nicht mehr, welcher Tag ist, geschweige das Datum. Ich hatte bislang auch überhaupt keine Lust auf Die Dschungel, und erst gestern habe ich, bei Bruno Lampe, ins Netz geschaut , aber auch da nur Emails angesehen und das Nötigste beantwortet. Immerhin wird die Telefonrechnung hoch werden; quasi täglich telefoniere ich kurz mit der Löwin, und einmal täglich telefoniert mein Bub mit seiner Mama.
Er ist überaus selbständig geworden, lief in Olevano mehrmals allein den Berg hinab, traf auf der Piazza neue italienische Freunde, fußballte mit ihnen und peste vorgestern abend, als es bei Eigner und I. das Abschiedsessen gab, im Centro Storico, mit weiterneuen italienischen Freunden durch die mittelalterlich verwinkelten Gassen, ließ sich ihm neue Regeln eines Versteckspielens erklären undsoweiter, mochte dann gar nicht mehr weg – ebenso wenig, wie, als wir am Montag nach Rom fuhren. „Können wir nicht eine Nacht in Rom bleiben, Papa? Bitte!” Das war am Katzenforum. „Gut, ich wollte eh in der Massimo vorbeischauen. Vielleicht ist ja ein Gastzimmer frei.” War es.
Freundlichste Aufnahme dort. Wir saßen am Brunnen, rochen die würzige Pinienrinde, lange saß ich auch noch allein, da war der Bub schon schlafen gegangen; wir hatten über das Kinderbuch gesprochen, sammeln Ideen, schreiben sie auf, aber richtig voran geht das alles nicht: eben:: es fließt so dahin.
Von Rom aus dann wieder nach Olevano zurück. Vorpünktlich standen wir in Anagnina am Bussteig, die elektronische Tafel zeigte unsere Verbindung auch noch an; nur der Bus kam nicht. Dann hieß es, wir seien verspätet. Was nicht stimmte. Sondern der Busfahrer hatte gedacht, da kommt eh keiner mehr, fahre ich halt v o r der Zeit. Sowas passiert, schließlich ist er dann auch früher am Ziel… Der nächste Bus fuhr eine Stunde später, aber nur bis Gennazano, einem Ort rund fünfzehn Kilometer v o r Olevano. Wir nahmen ihn, vielleicht ließe sich der Rest per Autostop erledigen. Als und der Fahrer in Gennazano hinausließ, sagte er noch, in fünf Minuten, dort an der Biegung, komme der Bus nach Olevano. Dreivier italienische Frauen warteten ebenfalls, und ein junger Mann. Zehn Minuten verstrichen, eine halbe Stunde war schon vorbei. Die Frauen hielten einen Bus an, der gar nicht in unsere Richtung wollte. Heftiges Diskutieren. Na ja, es sei August, und die COTRAL, das Busunternehmen, habe nicht genügen Personal; die Leute seien halt im Urlaub. Eine der Frauen telefonierte mit der Unternehmensauskunft. Na ja, eigentlich, das stimmt schon, hätte der Bus längst dasein müssen. Man habe halt. Es ist Ferienzeit. Wisse man auch nicht. Doch in einer nächsten halben Stunde ganz bestimmt.
Die Sonne prallte auf uns nieder; ich mag das, mein Sohn mag’s nicht, verträgt’s auch nicht so recht, stöhnte gelangweilt, dann versuchte er zu schlafen. Ich hingegen fand die Situation zunehmend komisch. Dachte an Sizilien. Wie viele Stunden habe ich dort wartend auf Busse herumgesessen, selbst auf Eisenbahnen – einmal, ich erinnere mich gut, Innersizilien, kam ein kleines Auto herangefahren. Ich dachte schon: ah, gutes Zeichen, wenn jetzt n o c h jemand kommt. Immerhin saß ich da schon dreivier Stunden völlig allein an dem ebenso völlig leeren Bahnhofchen. Kommt ein alter Sizilianer, tritt an mich heran, hat eine Flasche Wasser und hat sogar einen Plastikbecher für mich. „Das kann noch dauern”, sagt er, „du solltest etwas trinken. Der Brunnen hier ist nicht gut.” Reicht mir Flasche und Becher, grüßt noch einmal, geht wieder zu seinem Auto zurück und fährt davon.
Irgendwann k a m ein Zug, übrigens; andernfalls würden Sie dieses, Leserin, nicht lesen.
Eigenwilligkeiten gehören zu dem individualistischen Character der meisten Italiener hinzu: sie entscheiden schließlich selbst, nicht entscheidet Vorschrift und Regel; oder sie entscheiden strikter nach Vorschrift und Regel als irgend ein Deutscher; in jedem Fall ist kein Verlaß, vor allem im Süden. Man kann das Willkür nennen, man kann es aber auch Menschlichkeit nennen, die nicht den Apparat entscheiden läßt: wer d i e s e Sicht auf Widrigkeiten hat, geht letztlich weniger entfremdet durchs Leben. Gerade für mich, der aufs protestantische diszipliniert ist mit Zeit, ist das immer wieder eine gute Lehre.

Nein, keine >>>> Ayana, nicht die geringste Zweideutigkeit während dieser Reise bisher; es mag sein, daß mein Sohn mich vor solchen Erlebnissen schützt. „Wir sind aber keine richtigen Touristen?” fragte er mehrmals, in Rom vor allem, angesichts ganzer Massen junge Christgläubiger, die, nicht unähnlich dem Fähnchen Fieselschweig auf Kreuzfahrt, hierhergepilgert sind. Unsererseits besuchten wir S. Ignazio, der fulminanten Illsionsmalereien Andrea Pozzis wegen und weil wir für eine Freundin jeder eine Kerze entzünden wollten. Was wir taten; wohltuend, ja -tätig fast, daß die Kerzen dort Kerzen auch wirklich sind und nicht elektrische Kerzensimulationen.

[Monteverdi, Combattimento & Marienvesper.]

Und solch ein Glück haben wir mit unseren Unterkünften! Nicht nur in Eigners bergischem Naturparadies mit den freien Blicken ins Tal und zu den weiten Bergen darum, nicht nur im herrschaftlichen eleganten Garten-Ensemble der Villa Massimo, sondern nun auch wieder hier in Amelia: mitten im Centro storico, fast ganz oben auf dem Berg, immer wieder die Blicke, wohltuende Blicke in Verschachteltes, Bröckelndes, edelste Holztüren plötzlich, improvisiert Wunderschönes, hier dann die g a n z weiten Blicke über die Täler, an der mura meghalitico hinab zum Fluß, den scharfe Felshänge säumen, und diese Küche, Herd, schwarzelfenbein gekachelte Arbeitsecke mit Schneidebrett, alten Töpfen, das Öl in einer schweren Zweiliterflasche stammt aus der Gegend, ist süß und beißt, wie es muß.

10.36 Uhr:

Wir haben einen schwarzen schmalen Kater, der um Essen maunzt, ich habe eben die Pflanzen gegossen nach meinem Gang durch die Gassenknicke für meine Esportazione, die es nun endlich endlich gibt… weder in Rom noch Olevano waren sie aufzutreiben. Als ich gestern abend kochte, ging Parallalie Zigaretten holen, ich bat um Nazionale senza filtro, und dann brachte er die grüne Packung mit. „Das gibt es ja nicht..!” „Na ja, hier leben viele eigenwillige Menschen…” Er hat Brochs Der Tod des Vergil wiedergelesen, fand Ähnlichkeiten zu den Bamberger Elegien, „das will ich einmal vergleichen -. Wußtest du, daß er seien Roman Ein Gedicht genannt hat?” Nein, wußte ich nicht; ich habe das Buch, ähnlich beeindruckt wie von Niebelschützens Die Kinder der Finsternis, mit zwanzig/fünfndzwanzig gelesen, seither nicht wieder. Kann gut sein, daß es über die verstrichenen dreißig Jahre so in mir weitergewirkt hat.
Die Sonne kommt durch, dann schieben sich wieder Wolken darüber, dann kommt die Sonne wieder durch. Eine kleine Entzündung hat mich erwischt: direkt unterm Nasensteg. Das sieht ziemlich absurd aus, wie ein aufgekratzter Pickel an einer rasierheiklen Stelle. Mit einer Art Allergie in Olevano, weißGöttin wogegen, ging das los: permanentes Nieden. Dann entzündeten sich die Häute innen an den Nasenflügeln, anfangs nur rechts, dann auch links, schließlich wanderte das unter den Nasensteg nach außen. Rechts innen ist jetzt abgeheilt, den Rest muß ich wohl aushalten: ein Härtetestchen für die Eitelkeit. Aber ich bin mir gewiß, Leserin, daß Sie mich dennoch weitermögen, also beim Küssen, sei’n Sie versichert, stört das n i c h t.

2 thoughts on “Das Reisejournal des 5. Augusts 2010, eines Donnerstags in Amelia.

  1. Pepe, unser autistischer Kater, lässt ausrichten, Du mögest bitteschön, gegebenenfalls auf Italienisch, den schmalen schwarzen Kater von ihm grüßen.
    Und ich grüße Euch! Macht poetische Dinge, schreib Gedichte, seht Euch Ruinen an, bau Häuser aus Wörtern. (Diesen Satz habe ich geschickt sowohl im Singular, als auch im Plural formuliert. Sinnloserweise möchte ich anfügen, dass der Singular nur singulär vorkommt, was eine grammatikalische Orthodoxie ist).

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