Die letzten Tage 109

Es hat nicht mehr geregnet. Dafür aber war der Sommer zu Ende. Unmerklich fast. Gestern schon mußte ich nach dem Aufstehen meinen Oberkörper bedecken, heute erst recht. Es ist kühl, nicht kalt am Morgen. So ein Hemd auf der nackten Haut, aber doch zugeknöpft. Die Sonne scheint weiterhin. Die Luft wunderbar klar, daß die Konturen des Soratte mir wieder deutlich werden in den Fältelungen, die das Morgenlicht in seine linke und das Abendlicht in seine rechte Flanke hineinschattet. Die Baustelle liegt brach, seit sie am Dienstag mit dem Demolieren der Balkone fertig geworden. Somit herrscht die übliche Stille. Selbst der Vermieter ist selten zu hören, der vor ein paar Tagen auftauchte und nicht wie üblich seine Telefon- und sonstigen Gespräche unter meinem Balkon hielt. Er sei mit seiner Mutter hergekommen. Der half ich heute, die Tür zur Freitreppe aufzuschließen, denn sie stand da und probierte umsonst die Schlüssel in ihrer Hand, während ich das Auto aus der Garage holte. Wenn der Vermieter zehn Jahre älter ist als ich (steht im Mietvertrag), dann wird sie weit über achtzig sein. Endlose Langlebigkeit. S.’s Vater achtundneunzig. Vielleicht doch nicht so endlos. Gestern, da ich nichts anderes brauchte, beschloß ich, mal wieder im Dorf Zigaretten zu kaufen. Fast bereute ich es, als ich schon die Straße neben der Gartenanlage eingeschlagen: unten auf der Dorfstraße waren Menschen versammelt. Bald wurde klar, daß da im Wagen, der glücklicherweise Richtung Kirche fuhr, also sich von mir ideell entfernte und mir nicht entgegenkam (wenn’s Richtung Friedhof gegangen wäre), ein Sarg transportiert wurde. Ich sah den Vermieter daraufzu rennen. „Eine Beerdigung?“ fragte ich den Tabakhändler. Eine 96jährige „Mutter“ sei gestorben. So sagte er es. Irgendwas ließ mich vorgestern zu Sade’s ‚Justine’ greifen (wahrscheinlich die DVD mit Pasolinis ‚120 Tagen von Sodom’, die mir Danilo geliehen, die ich einst in einem Wolfsburger Kino gesehen, in dem man damals anfangs der siebziger rauchen durfte, dessen Publikum während der Projektion immer weniger wurde, und seitdem nicht wieder (wahrscheinlich werde ich auch noch Sade’s ‚120 Tage von Sodom’ davorschieben)). Irgendwas jagte mir heute Angst ein, als ich nach dem Mittagessen im Bett lag. Die Vorstellung eines Schlaganfalls. Zuvor mußte ich an den Namen ‚Iris’ denken, an diesen wunderbaren Dido-Schluß. Und erinnerte mich, gehört zu haben, daß die beste Freundin meiner ersten Freundin, mit der ich zuerst ‚der Liebe genoß’, die diesen Namen Iris trug, mit einer Motorsäge umgebracht worden sei. Das mäandert dann in die vielen O’s, die dann beginnen zu erklingen. ‚Truce’, würd’ ich sagen. Und zu all dem Toten-Salat kommt noch die verdrängte Erinnerung an den letzten Abend hinzu, an dem ich von Amelia zu später Stund’ heimfuhr: Das tumbe Geräusch einer unvorsichtigen Katze, der nicht mehr auszuweichen war, unter dem Auto. Many happy returns & Love!

4 thoughts on “Die letzten Tage 109

  1. Herr Lampe, ich werde hier noch meschugge!

    Von Hottehühpferden. Himmel hilf!

    Pilotenbericht: Maus im Cockpit.
    Mechaniker: Katze installiert!

    Ich muss andauernd an den Vogel denken, dem man nicht mehr einfangen kann.
    Ach, Sie hatten so früh schon recht. Erden und Irden, genau das passiert…

    1. Werden Sie’s nicht! Es hottet halt im Verlauf der im Text rarer werdenden zu berichtenden Tatbestände/Sachverhalte immer mehr ins Chimärische der inneren Umstände bzw. Umständlichkeiten, die sich als Wurmfortsatz der rein äußeren Wahrscheinlichkeit verstehen, wobei selbstverständlich alles installiert wird, was sich lose in einen Zusammenhang bringen läßt: paßt, wackelt, hat Luft. Die Blinddarmoperation ist dem Leser überlassen. An sich selbst, versteht sich.

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