Die letzten Tage 111

Es ist zwar möglich, alte Tagebücher wiederzulesen, aber dennoch fällt mir das Wort „unmöglich“ dazu ein. Immerhin, ich brachte vor 29 Jahren meine Neuköllner Wohnung an diesem Tag, es war ein Donnerstag, auf Vordermann. Bevorstand eine Abreise, nämlich nach Florenz, die dann den Grundstein für mein Hiersein legte. Ich erinnere. Ich erinnere. Und zelebriere die Erinnerung. Da war erst der Gedanke, das hier alles wiederzugeben, aber ich werde mich auf einen Satz hier und da beschränken. Außerdem fuhr ich dann erst am 15.9. los. All dies Zelebrieren geht immer in diese Richtung: >>> Wer liebt, muss sich fürchten. Denn er weiß, dass er ausgesetzt ist: der Möglichkeit zu versagen. Dass die Liebe dem Alltag nicht standhält. – schreibt Melusine B. (gestern? jedenfalls las ich mich fest), die konsequent Hölderlin zitiert, denn nach wie vor ist die Tat nicht Tat, sondern Delikt, das man nicht selbst verübt, sondern einem verübt wird, auch wenn man’s selber tut. So fährt man dann (dieses Mal war das ‚White Album’ (Happiness is a warm gun) an der Reihe) durch die amöne Landschaft, um eine abseits gelegene Zahnklinik zu erreichen, die gleich neben einem bekannten Rehabilitierungszentrum für Drogensüchtige liegt. Warnschild am Ende der von der Provinzstraße Amelia-Orte herabführenden einspurigen Straße, wo die breite Schotterstraße beginnt: 10 km – „Area videosorvegliata“. Gestern nachmittag und heute. Kein Auto gestern. Die zur Klinik hinaufführende Schotterstraße von vergangenen Regengüssen durchfurcht. Ich näherte mich, auf mich zugehend, dem Eingang am Ende des dreiseitig umschlossenen Vierecks. Ich war zu spät und merkte mir die Zeiten für heute. Und bekam auch heute richtig einen Termin für Montag. Dort würden auch angehende Zahnärzte praktizieren. Las ich im Prospekt. Bisher kannte ich nur das Schild an der Straße. Im Telefonbuch war’s nicht zu finden. Im Kabuff der Anmeldung die Fotografie von Don Gelmini, einer umstrittenen Figur, die eine ganze Reihe von diesen Rehabilierungszentren in der Gegend unterhält. Zuweilen Besuch von Politikern, vornehmlich der ehemaligen Democrazia Cristiana. Es war alles diskret still, in der Ferne eine junge Person mit grünem Kittel und Mundmaske. Jung auch und unkompliziert hübsch die, die mir den Termin gab. Mal seh’n, was die verlangen. Ich weiß nicht wirklich, ob ich mich Freund M. anschließen soll: Und auf der Straße kommen mir alle Passanten und Paare so vor, als hätten sie bloß aus Zimperlichkeit zu sterben vergessen. Allerdings vermeide ich derzeit tagsüber (unter der Woche) jeden Sichtkontakt zur Außenwelt, sofern ich nicht einkaufen fahre. Die Arbeiter sind die ganze Woche rege gewesen und dauernd ging jemand auf dem Gerüst vorbei. Bis ich mich entschloß, die Rolladen unten zu lassen und eben bei künstlichem Licht zu sitzen. Gelegentlich läßt der eine von denen immer die gleichen Silben in allen möglichen Varianten hören, als überkäme ihn ein plötzliches Erinnern und Sträuben davor, was dann klingt wie: Dschú-vaaaa-ni. Könnte auch Dschú-vaaaa-na sein. Und wenn er spricht, verstehe ich kein Wort. Irgendein meridionaler Dialekt, dem die Laute wie gepreßt hervorkommen. Lautpakete. Morgen kommt S. wieder aus Sizilien zurück. Some conversation needed.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .