Der Hölty-Preis für Paulus Böhmer: die Preisverleihung. Arbeits- und Reisejournal des 16. Septembers 2010. Berlin und Hannover. Wie Literaturgeschichte eben a u c h geschrieben wird. Sowie zu Dieter Ilgs Otello und zur Religion.

8.03 Uhr:
[Arbeitswohnung. Rachmaninov, Rhapsody über ein Thema von Paganini.]
Es war halb zwei Uhr nachts, als ich meine Besprechung >>>> des gestrigen Eröffnungsabends des zehnten ilbs geschrieben hatte und, nach einem Telefonat mit meiner Löwin, ins Bett kam; da schlief meine Junge schon lange tief tief tief. Mich weckte das Mobilchen vorhin dann um sechs, aber ich sackte noch mal weg und sprang dann erschrocken auf: sieben war’s bereits. Kakao bereiten, dem Jungen an sein Lager stellen, den ersten Latte Macchiato bereiten, dann die Morgenmusik, heute mit Rachmaninovs Klavier. Nun ist mein Sohn schon zur Schule fort, nach Schoko-Cornflakes mit geputzten Zähnen. Heute wird er etwas „früher”, gegen vierzehn Uhr, zum Essen wieder hier sein, dann haben wir noch eine Stunde, bevor ich aufbrechen muß und will. Denn dem Dichter Paulus Böhmer wird heute >>>> der höchstdotierte Lyrikpreis verliehen, den Deutschland hat. Da möchte ich dabeisein. Er weiß das nicht, es wird eine Überraschung (sofern ihm, dem Internet-Verächter, von diesem meinem Eintrag keiner was steckt).
Wir haben eine lange Geschichte miteinander, haben in meiner Frankfurtmainer Zeit viel zusammengesessen und auch ein paar gemeinsame Projekte auf die Beine gestellt, an denen bisweilen Michael Rieth planend und sogar führend mitgewirkt hat. Ich habe über Böhmer oft geschrieben, auch das Vorwort für einen Band seiner Gedichte bei dtv verfaßt; im Netz können Sie >>>> auf einen meiner Paulus-Böhmer-Texte frei zugreifen. Böhmer ist sehr lange… sagt man wirklich verkannt? – gewesen. Er hielt sich von dem öffiziellen Literaturbetrieb, der ihn ekelte, fern, der, von einigen Getreuen abgesehen, seinerseits ihn ignorierte. Bis es ihn in eine seiner Mitten katapultierte: Viele Jahre leitete er das Hessische Literaturbüro, aus dem nun >>>> das Hessische Literaturforum im Mousonturm geworden ist, das nach Böhmer >>>> Werner Söllner geleitet hat und heute >>>> Harry Oberländer leitet. Es ist vor allem der strengen Programmauswahl Böhmers zu verdanken, daß sich das Literaturforum als einer d e r repräsentativen Literaturorte Deutschlands etablieren konnte und immer in einer eigenartigen Zwitterstellung zwischen den aus dem Geist der Arbeiterbewegung durch einiges Mitspiel des VS (Verband deutscher Schriftsteller) und den „großbürgerlichen”, auf abgesicherte Reputation, also aufs Repräsentieren bedachten Literaturhäusern angesiedelt war. Für diese sehr fruchtbare Zwitterstellung steht das Literaturforum noch heute; Namen wie Eva Demski, Klaus Reichert und viele andere sind ihm verbunden. Böhmers Lyrik verhielt sich bei allem Programmerfolg; erst in den späten Jahren trat sie mit Selbstbewußtsein aus dem Schatten. Die ersten Kritiken erschienen, oft noch von Freunden verfaßt, die den Dichter kannten und begleiteten. Sein Name wurde nun mehrmals für Preise genannt. Doch alte Gegnerschaften wirkten durch die Juries. Es ist deshalb gar nicht zu sagen, w e l c h ein Erfolg es nunmehr ist, daß Böhmer – für sein einzigartig im deutschen Sprachraum stehendes Gesamtwerk – diesen Preis erhält. Es hat in den letzten Jahren, nachdem eine alte Lyrikergeneration „abgetreten” war, auf die Jungen einigen Sog ausgeübt; zu bekennenden Böhmerianern gehört etwa >>>> Jan Volker Röhnert, der heute abend ganz sicher auch dortsein wird. Gar kein Zweifel, daß Paulus Böhmer in die Geschichte der deutschen Literatur maßgeblich eingehen wird.Manches hat dafür >>>> >>>> Schöffling & Co getan; Böhmers Kaddish-Bücher zu verlegen, war ein Wagnis, das mich gegen Klaus Schöffling trotz all meiner Wut versöhnlich stimmt, und mehr als das.

Zur Preisverleihung: >>>> d o r t.

Ich werde wahrscheinlich nachts noch wieder zurückfahren und dazu den halb-dreiundzwanzig-uhrer ICE nehmen müssen; oder ich finde auf die Schnelle ein preiswertes Hotel, oder… wer wird mir vielleicht lächeln? Jedenfalls fahr ich, seien Sie’s versichtert, geduscht, rasiert und duftend da hin. Spätestens morgen mittag, wenn mein Junge aus der Schule kommt, will ich wieder hier sein. Während der Fahrt schreibe ich am Leukert.

13.29 Uhr:
[Draeseke, Dritte Sinfonie.]
Wie seltsam es sich manchmal fügt! Ich hatte in diese romantische Sinfonie schon mehrfach hineingehört, und nie ging sie an mich. Seit vorhin ist das anders. Ich werde die CD mit auf die Reise nehmen und vielleicht nochmals anhören – obwohl >>>> Leukert dringend vorgeht. Plötzlich. Plötzlich.

Besorgungen, vor allem Post: >>>> ein Hörstück war privat bestellt worden, das sollte hinausgehen; und an >>>> Zazie habe ich als kleines Dankeschön für >>>> das Buchcover zu Azreds Buch >>>> „Die Orgelpfeifen von Flandern” geschickt. Dann das Mittagessen vorbereiten, einen Pudding, aber schon ganz früh, gekocht. Jetzt packe ich schon mal langsam zusammen, um 15 Uhr brech ich auf.

UF mailte: Mein Text zu Dieter Ilgs „Otello” ist heute in der FAZ erschienen; >>>> man bekommt ihn im Netz, aber nicht frei. Der Titel freilich ist blödsinnig; da wollte mal wieder wer lustig sein. Völlig daneben. (Die headlines von Artikeln werden fast grundsätzlich von den Redaktionen gemacht).

16.18 Uhr:
[ICE Berlin-Hannover.]
So, im Zug. Die FAZ gekauft. Da ist ein bißchen umgeschrieben worden, scheint mir; aber das vergleich ich erst morgen. Jedenfalls scheint mir der eigentliche Witz des Textes, der, erinner ich mich, aus einem einzigen Satz bestand, verloren zu sein. Eine sinnvolle Kritik ist es aber immer noch, wohl auch wichtig für Ilg.
Jetzt erst mal den Mittagsschlaf nachholen; ein Schläfchen, denk ich. Auf dem Bahnsteig stehend einen guten Artikel Ernst-Wolfgang Böckenfördes zum Verhältnis von Religion und Rationalismus gelesen. In etwas mehr als zwei Stunden werde ich in Hannover ankommen und das Stückchen zur Sophienstraße zu Fuß gehen.

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