Die Mondsiedel

Ein fensterloser Raum, graue Wände, über mir ein elektrisches Deckenlicht. Der Raum ist durch einen türlosen Durchgang mit einem weiteren verbunden. Ich schaue hinüber. Riesige, ineinanderverlaufende Schlangen luftführender Rohre wachsen inmitten des Raumes kniehoch aus dem Boden. Verästeln und verschlingen sich in alle Richtungen. Nur ein schmaler Weg entlang der Wände ist noch begehbar. Der erste Raum scheint sich im zweiten fortzusetzen: ein Deckenlicht, ergraute Wände, keine Fenster, jedoch eine Tür in der rechten Wand. Das einzige, was meinen Blick fesselt, ist ein in Lebensgröße aufgemalter Baum auf der gegenüberliegenden Wand, zu dessen Füßen ein kleiner Junge sitzt. Um ihn herum liegen bunte Kreidestifte verstreut. Er bemerkt mich nicht, ist ganz in sich versunken. Ich will zu ihm, zu diesem Baum den er gezeichnet hat, denn etwas daran ist sehr sonderbar. Es sieht aus, als habe er ihn um ein kreisrundes, faustgroßes Loch in der Wand gemalt, über dem sich der Stamm zur Baumkrone verzweigt.
Als ich über die Schwelle trete, schnellt von links ein riesiger Wirbelwurm, auf mich zu. Ich springe zurück, falle zu Boden, sehe, erstarrt vor Entsetzen, wie das Tier an mir vorüberzieht. Es kann offenbar nicht in diesen Raum. Ich versuche mich zu sammeln, was einige Minuten dauert. Dem Jungen, so scheint es, würde der Wurm nichts tun. Ich fasse mir ein Herz und schaue noch einmal hinüber, will nach dem Tier spähen. Unmittelbar in diesem Moment öffnet sich die Tür, ein Mann tritt herein, macht einen Schritt zur Seite, der Wirbelwurm glitscht hinaus ins Freie. Der Mann sieht mich an, eine blättrige Wehe durchzieht den Raum. Der kleine Junge steht auf, dreht sich zu mir und winkt mich zu sich. Ich laufe den Weg zu ihm links herum. Der Mann in der Tür beobachtet uns. Auf Zehenspitzen stehend, deutet der Junge auf das Loch in der Wand. Ich hebe ihn hoch, damit er hineingreifen kann.
Plötzlich erlischt das Deckenlicht. Ein immer schmaler werdender Lichtstreifen läuft die Wand hinter mir entlang, es wird zunehmend kälter. Unwillkürlich schaue ich in Richtung der Tür, die sich schließt. Ich merke, wie sich meine Pupillen weiten, um sich auf die in Sekunden beginnende vollkommene Dunkelheit einzustellen. Zu meinem Erstaunen jedoch bleibt sie aus. Das Rascheln der Blätter nimmt zu. Noch immer trage ich den Jungen auf dem Arm. Vor uns scheinen sich die Umrisse des Baumes immer deutlicher abzuzeichnen. Es ist, als ob die Äste sich aus der Wand herauslösten, als wollten sie in den Raum greifen. Ich bilde mir ein sie knarzen zu hören, versuche meine Augen anzustrengen. Doch je mehr ich es versuche, desto schneller wächst er uns entgegen, hinein: in eine silbrige Dreidimensionalität. Ich spüre, wie der Boden unter meinen Fußsohlen weicher und weicher wird. Es kann nicht sein, aber alles fühlt sich danach an. Ich schaue nach oben. Über uns prangt ein zunehmender, sich mehr und mehr ausdehnender Mond, so als hätte er sich aus meiner eigenen Pupille direkt in den Nachthimmel gestülpt. Wir beide stehen nun mitten im Wald. Der Junge küsst mich auf die Wange und fasst hinein.
Und was fühlst du?
Fischfell. – Schläft es dort?
Ja, das tut es.
Jetzt du!
Ein Lächeln huscht dabei über sein Gesicht. Ich lasse ihn herunter, strecke mich und greife in die Höhle. Sofort spüre ich etwas Nacktes, zucke zusammen und ziehe meine Hand reflexartig zurück. Der Junge fängt an zu schreien. Ich knie mich hin, fasse ihn an den Schultern. Er hält sich mit beiden Händen die Ohren zu, sein Gesicht ist ganz verzerrt, die Augen zusammengekniffen. Eine schleichende Angst ergreift mich. Eine Angst vor dem, was ich nicht ausmachen kann. Dem was er hört. Dem, was ich selbst nicht höre oder nicht hören kann. Ich schüttele ihn, werde selbst immer panischer. Unvermittelt hört er auf zu schreien, öffnet die Augen, nimmt kurz die Hand von seinem rechten Ohr und zeigt auf etwas hinter mir. Ich drehe mich um und sehe in einiger Entfernung eine kleine Hütte, Fenster, aus denen flackernd Licht fällt. Da der Junge sich wieder beide Hände auf die Ohren presst nehme ihn hoch und gehe los. Je näher wir der Hütte kommen, desto mehr drückt er sein Gesicht an meine linke Schulter. Das Herz klopft mir bis zum Hals. Keinen Augenblick länger will ich in diesem Wald verbringen, aber ich weiß, was auch immer den Jungen so verängstigen mag, es kommt aus diesem kleinen Häuschen.
Auf halbem Weg lasse ich ihn herunter, löse ihm die Hände von den Ohren und sage: Warte hier, ich bin gleich wieder da. Er nickt stumm. Ich zögere, ob ich ihn allein lassen soll, aber ich muss in diese Hütte oder zumindest hineinschauen. Es sieht so aus, als hätte es Fenster zu allen Seiten, in deren Rahmen Kerzen aufgestellt sind, denn sie streut Licht in alle vier Himmelsrichtungen des Waldes. Ich versuche mich die letzten Schritte leise zu nähern, kein Geräusch zu verursachen, das meine Anwesenheit hier draußen verraten könnte. Leicht gebückt schleiche ich vorwärts, um erst einmal unentdeckt durch eines der Fenster spähen zu können. Unter dem Fenster angekommen, zögere ich, ängstige mich zu sehr. Ich hole tief Luft, zähle bis drei und tauche meinen Kopf in den hinausgeworfenen Lichtballen des Kerzenscheins. Was ich sehe, fährt mir ins Mark, lässt mir das Blut in den Adern gefrieren. Ein rotes Pferd. Es steht mitten im Raum, ganz unbewegt im Profil, fast so als wäre es ausgestopft. Nur hin und wieder ein Lidschlag, der keinen Zweifel an seiner Lebendigkeit lässt. Ich laufe einmal um die Hütte herum, suche eine Tür, finde aber keine. Nur eine kleine Schublade unter dem Fenster, durch das ich zuvor hinein geschaut habe. Ich ziehe sie heraus, die Kerzen erlöschen. Ein furchtbares Wiehern entspringt dem kleinen Kasten. Mit einem Mal ist es stockdunkel, ich kann die Hand vor Augen nicht sehen. Wie eine in alle Richtungen zugleich rollende Welle Wehe pflanzt sich das freigewordene Wiehern durch den ganzen Wald fort. Der Schreck sitzt mir in den Knochen, mein ganzes Skelett schmerzt. Ich schließe die Augen und bete, dass dieses ohrenbetäubende Geräusch endlich aufhört. Nur langsam lässt es nach, verhallt, bis es endlich ganz still ist. Ich öffne die Augen, stehe jetzt selbst in der Hütte, vor mir eine Tür. Durch die Fenster dringt helles Tageslicht. Ich trete hinaus und drehe mich noch einmal um. Die Hütte: verschwunden. An ihrer Stelle: ein Baum.

3 thoughts on “Die Mondsiedel

  1. @Hollister Was halten Sie von dem Titel: Die Mondsiedel / Schlafmondsiedel? Könnte ein Baumname sein. Ich hätte noch: Im Schlaf. Oder: Die Schublade.
    Oder die Himmelsrichtungen: N-O-S-W

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