Ägypten & Demokratie. Das Arbeitsjournal des Sonnabends, dem 5. Februar 2011. Auch: Zur Wahrhaftigkeit.

4.47 Uhr:
[Arbeitswohnung.]
Latte macchiato. Bin auf, fünf nach halb fünf, es war schwer heute früh. Ich lag auch erst um halb eins im Bett, weil ich dann doch noch telefonierte. Man muß sich sagen: wenn du jetzt liegenbleibst, ist die Routine dahin, und du kommst morgen nicht mehr rechtzeitig raus; man muß das im Schlaf sagen können.
Jetzt gleich an den Text, damit ich im ersten Korrekturgang, dem in der Datei, vormittags durchbin und nachmittags den zweiten, den auf Papier, angehen kann. Beide sind unbedingt nötig, denn man sieht in der Datei andere Fehler als auf dem Papier, und umgekehrt; es sind quasi andere Texte.
Aber meine Augen sind nicht gut. Ich brauche diese OP.
Mehr vielleicht später. Erst mal die Morgenpfeife stopfen.

5.23 Uhr:
Doch noch nicht bei der Arbeit gewesen, sondern mich >>>> zu Ägypten im Netz festgelesen; muß das aber jetzt unterbrechen. Ich lasse ja immer mal wieder demokratiekritische Bemerkungen los, besonders – nein, eigentlich fast nur – bezogen auf Kunst; politisch aber ist und bleibt meine Position eindeutig demokratisch. Interessant an dem ägyptischen Aufstand ist für mich mehrerlei. Zum einen das Lavieren Europas, um Mubaraks Namen zu halten. Die von ihm verhängten Notstandsgesetze hätten den Mann bereits vor dreißig Jahren fallen lassen müssen; aber auch Obama rückt ja erst von ihm ab, seit die Bevölkerung sich wehrt; vorher galt ihm Mubarak als Freund. Die Schlägertrupps waren seit langem bekannt. – An alledem hängt die Frage der Legitimität von Gewalt-selber, also besonders auch der Legitimität von Gewalt aus dem Volk. Die Beschwörung, die Demonstationen sollen gewaltfrei verlaufen, kommt mir stets verdächtig und weltfremd, nämlich geschichtsfremd vor. – Zum zweiten die Rolle der Islamisten hier; es gäbe allen Grund, sehr vernehmlich zu werden, da sich die Notstandsgesetze ja vor allem gegen sie richteten. Eine Demokratie in einem Land, das derart viele islamische Gläubige hat, kann ohne den Islam nicht demokratisch genannt sein. Der darin liegende Konfliktstoff ist demokratisch nicht mit Gewaltgesetzen lösbar, sondern einzig durch eine Diskussion des Islams selbst: also – auch, aber unabdingbar mit – theologisch. – Drittens schließlich frage ich mich – ich bin ja nicht vor Ort und könnte mich selbst dort, da ich kein Arabisch spreche, nicht angemessen umtun -, wie es denn auf dem ägyptischen Land aussieht; ich habe aus den Berichten den Eindruck, die Proteste bezögen sich allein auf Kairo. Eine Revolution zeichnet sich aber durch die gleichzeitige Erhebung einer gesamten Bevölkerung aus; so ist sie definiert. Es gibt rund 80 Millionen Ägypter, etwa so viele Menschen wie in Deutschland; in Kairo lebt davon rund ein Zehntel (die Zahlen sind freilich, wie ich weiß, gerade für Kairo höchst ungesichert); daran ändert sich über den Daumen gepeilt auch nichts, wenn man Kinder und Alte, die nicht demonstrieren können, herausrechnet.
Beschäftigt mich. Geht mich, spüre ich, eng etwas an. Demonstrationen, von denen ich hierzulande – und allgemein in der westlich-kapitalistischen Welt – immer den Eindruck habe, es seien entertainige Veranstaltungen, die alleine den Regeln des Pops folgen, scheinen mir dort existentiell und wahrhaftig zu sein. Wahrhaftigkeit – das ist ein Wort, das mir das Herz und die Nerven berührt; es hält mich sogar von meiner poetischen Arbeit ab. Ich glaube, daß sie, die Wahrhaftigkeit, die Voraussetzung für eine Emanzipation zum Freien Menschen ist. Zugleich ist sie das Gegenteil dessen, was Politik und, nämlich, die Diplomatie leisten können und dürfen; Diplomatie muß sich verstellen, sonst kommt sie nicht voran. Das falsche Lächeln und die Intrige gehören notwendigerweise zu ihrem – sic! – Geschäft. Dashalb kann der Freie Mensch nicht zu ihm gehören; er liegt nicht in seinem Interesse.

Aber jetzt wirklich an den Text.

9.48 Uhr:
Fertiggeworden mit dem ersten Durchlauf des Korrigierens in der Datei, alle nunmehr 138 Typoskriptseiten. Jetzt sie ausdrucken und gleich noch einmal den ganzen Text von vorne lesen, d.h.: auf Papier korrigieren. Heute abend dann werden Die Fenster von Sainte Chapelle fertigsein; die Samarkandin hat sich angeboten, sie zu lektorieren. Was nicht ohne Witz ist, wenn eine Figur, die selbst vorkommt, das tut. Aber auch die Löwin will lesen und noch einmal Freund UF. Mitte der Woche kann das Buch dann in Satz.
Ich mach mir mal eben einen Tee. Und Brot ist keines mehr da.

13.58 Uhr:
[Direkt nach dem Mittagsschlaf.]

Die Fenster von Saint Chapelle
Typoskript, Dritte Fassung.

Vor dem Korrekturgang auf dem Papier.

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