Zu Lebens- und Erlebenszeit, zur Popmusik und zum Unterkomplexen (: zu viel getrunken dann doch). Das Arbeitsjournal des Freitags, dem 28. Oktober 2011. Wo wir hingehen.

5.10 Uhr:
[Kimmo Hakola, Klarinettenquintett (1997).]
Erst um zwei Uhr ins Bett und deshalb eben erst um zwei Minuten vor fünf auf; der Disziplin halber, nicht weil mir die drei Stunden Schlaf genügt hätten. Ich werde den Mittagsschlaf nachher etwas länger anlegen. Doch der Körper soll sich an die frühe Morgenzeit gewöhnen. Das hat auch etwas von einem Ritual, das schließlich fast ohne Wecker funktioniert. Bei Krausser, >>>> in UC, las ich den faszinierenden Gedanken, daß die Erlebensfülle eines Menschen immer die gleiche bleibe, egal, ob er nur fünfzig oder einhundertfünzig Jahre alt werde; Kurthes erklärt dieses mit der zum Alter so relativen Erlebniszeit, die dem eigenen Eiundruck, je älter man werde, um so schneller zu verstreichen scheine; Kindern ist eine Woche wie Monate, Erwachsenen wie erst vier Tage, dann schon nur noch wie zwei, so daß für jemanden, der Millionen Jahre alt werde, die Sonne mit jedem Lidschlag auf-, bzw. untergehe; und nicht nur für uns Menschen gelte das, sondern „jedes Lebewesen verfügt über eine ähnliche Spanne von erlebter Zeit, sogar die Eintagsfliege“. Das gilt natürlich im Prinzip, etwa ein Busunfall kann das ändern. Auch zu wenig Schlaf? Oder ist, mit wieviel „Pause“ im Gehirn man sich zufriedengeben kann, vorgesehen?
Frag ich mich grade bei Latte macchiato und der Morgenpfeife.
Es wurde gestern nicht so spät >>>> der Veranstaltung wegen, sondern um halb eins telefonierte ich noch lang mit der Löwin; es ging auch um Planung und Verlagsbelange. Die Lesung selbst war nett und wenig besucht; aber auch die angekündigten Autor:innen waren, soweit sie nicht in Berlin leben, zwar entschuldigt-aber-doch: abwesend. Irgendwie komme es ihm vor, als wäre die gesamte zweite Oktoberhälfte schläfrig, meinte, und er gähnte, >>>> Sukov. Ich gähne trotz des wenigen Schlafs nicht, nur die Augen sind etwas trocken und möchten gern betröpfelt werden. So daß ich zwei Minuten aussetzen muß mit meiner Tipperei, bis sie wieder klarer sehen; die künstlichen Tränen legen auf die Augen immer erst einen Film.

Die zwei Minuten sind herum. – Ein nächster NurLeseTag heute, vielleicht krieg ich UC schon durch. Kurthes ist eine Figur wie >>>> Brosamer bei Dean, sie hat auch ein bißchen was von >>>> Dr. Lipom; man weiß nie recht, ist sie noch menschlich, also von Gattung, nicht Moral. Interessanterweise wird der immer nur leise Zweifel durch Kraussers höchst geschickt durchs Buch gestreuten Verfasserkommentare bestärkt, die teils als Ausweis für unmittelbare, bisweilen irritierende Perspektivwechsel dienen, teils aber die manchmal phantastisch wirkende Erzählung sowohl vorantreiben wie realistisch erden. Das ist schriftstellerisch mit überaus großem Geschick gebaut – und sowieso schon, wie er den besonders in diesem Buch allgegenwärtigen Sexus, dessen Betrachtung nicht ganz ohne Houellebecq ist, in den Schwanz des esoterischen Drachens knüpft, den Kurthes für uns aufsteigen läßt; da will man schon wissen, wie das ausgeht, da wird der Plot zur Form. Imgrunde könnte ich allein zu diesem Roman ein Hörstück machen; er wird wahrscheinlich auch im Mittelpunkt stehen.
Immer wieder erstaunlich, wie gut sich Neue Musik den frühen Morgen (umgangssprachlich: „Morgenden“) anschmiegt; sie hat sehr oft ein meditatives Element, anders als die U-Musik, die ablenken möchte; in dieser wird man extrovertiert, in jener lauscht das Ohr nach innen. So etwas scheint mir auch der Unterschied von alleine plotbezogenen zu sowohl sprachlich als auch formal elaborierten Romanen zu sein.

[Poetologie.]
7.40 Uhr:
[Salvatore Sciarrino, Histoire d‘autres histoires (1993-2001).]
Ich lese Krausser, höre dazu nochnichtarchivierte CDs und archiviere sie, je, wenn ich sie höre. Auch hübsch ist folgendes:
Es gibt diese Menschen, die gegenüber komplexer Musik mit Verständnislosigkeit geschlagen sind, als fehlte ihnen ein Gen im Erbgut; es können die hoffnungslosesten Fälle darunter hochintelligent sein.
UC. 323.
Das scheint mir eine gute, weil pragmatische Attributierung von E-Musik zu sein: komplexe Musik. Demzufolge, wenn ich von Pop spreche, den ich nicht leiden kann, dann spreche ich von nichtkomplexer, besser noch von unterkomplexer Musik. Es ist wurscht, ob es sich dabei um sog, Klassik, Jazz, Rock usw. handelt. Nicht die Gattung ist mein Problem. Was ich aber sagen kann, das ist, daß es sich beim Mainstream prinzipiell um ein Unterkomplexes handelt. Allerdings schreibt Krausser danach:…es gab gerade bemerkenswert viel ernstzunehmende Popmusik, aus jedem dritten Fenster des Viertels, aus jedem zweiten Ghettoblaster nachts im Park tönten die Stücke von Radiohead, Air oder Placebo wie ein fliegender akustischer Teppich über der Stadt –Ich sollte mir die Namen dieser Gruppen merken und mal reinhören. Ehrlich.

12.22 Uhr:
[Scelsi, Aiôn.]
… und auch mit so etwas wird einer wie wie von Krausser beschenkt, mit solch eine wahnwitzig treffenden, fantastischen Charactrerisierung:Zum Schluß die halsbrecherische (…) Toccata Opus Acht von Schumann, unmittelbar verständliche, zu Musik verwandelte Energie und Wut und Sehnsucht,und jetzt kommt‘s:früher Heavy Metal aus dem Biedermeier.
Mittagsschlaf nun. Seite 411. Nur noch 66 Seiten liegen vor mir. Da kann ich heute noch das nächste Krausser-Buch zu lesen beginnen.

17.53 Uhr:
[Enno Poppe, Markt (2009).]
Anderthalb Stunden habe ich mittaggeschlafen, bevor ich wieder an meine Lektüre ging und nebenher weitere CDs, die ich dabei höre, archivierte. Jetzt bin ich, soeben, mit UC fertiggeworden. Tolles Buch, das gegen Ende ein wenig, allerdings notwendigerweise, fasrig wird. Dafür aber gleich eine Passage gefunden, mit der ich das Hörstück ganz unbedingt einleiten werde: es nimmt Krausser-selbst in seinen Roman hinein, benennt ihn sogar, es gibt sich selbst den Namen. Jetzt nehme ich mir noch einmal Kraussers „Thanatos“ vor; den Roman habe ich (ich notiere so etwas immer auf dem Schmutztitel eines Buches) schon vor fünfzehn Jahren, bei seinem Erscheinen, gelesen.

“Wo gehn wir denn hin?
Immer nach Hause.”
Novalis, Ofterdingen.
In einer Viertelstunde wird mein Junge zum Celloüben hiersein. UF hat mir Placebo und Radiohead geschickt.

[Hindemith, Sinfonie Mathis der Maler.]

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