Nach einem langen kurzen Nachtgang durch eigene Geschichte. Böhmers Braunschweigsjournal des Sonntags, dem 11. Dezember 2011. (Braunschweig 2).


Braunschweig 1 <<<<

7.20 Uhr:
[Hotel „An der Stadthalle“, Zimmerchen 24.]
Der Diminituv ist nicht despektierlich, und die Anführungszeichen stammen, wiewohl das Hotelchen wirklich an der Stadthalle liegt – man kann hinübersehen, was aber mir nichts wert; wir treten da nicht auf -, von den Inhabern, bzw. der Inhaberin, die mir soeben den Kaffee durchlaufen ließ. Ich hab das gut gemacht, daß ich gestern nacht, nachdem wir vom gemeinsamen Essen gemeinsam hier herübergekommen um etwa 23.45 Uhr, noch einen langen Spaziergang unternahm, so lange ein lange hier sein kann – die Innenstadt ist wirklich nicht groß und alles viel, viel näher als in meinen Erinnerungsfeldern, die Kind geblieben sind, notwendigweise, sonst wärn sie gelöscht –

Doch, es gibt diesen Zauber Braunschweigs noch immer. Ich ging fast anderthalb Stunden hindurch und zurück, bis ich begriff, worin er sich verbirgt.
Erst einmal liegt meine alte Gaußschule keine drei Querstraßen von hier weg. Es gab damals einen Wettbewerb zwischen ihr, die damals noch reines Jungengymnasium war, und dem fast direkt benachbarten Wilhelmgymnasium: welches die Eliteschule sei. Unterdessen hat das Wilhelmgymnasium gewonnen, muß man annehmen; es ist draußen eigens als Eliteförderungsanstalt ausgewiesen, die Gaußschule nicht. Dafür liegt sie nach vorne zum Löwenwall (um den und seinen Löwenobelisken wir Jungs zum Sportunterricht die 1000 Meter immer liefen), und nach hinten fällt sie, will und darf ich das beschreiben, ins Mittelalter ab. Ja,m dahinter St. Magnil. Leider, leider ist die Kamera eines Iphones 3GS nicht das Ergebnis bester Technik; ich gab es schnell auf, Bilder zu machen. Leider. So sind nun die Bilder in mir.

Der Fluß, der die Stadt nicht, die Altstadt, durchfließt, sondern umschleift, war noch schmaler und zaubrischer, als meine Erinnerung hoffte. Die Häuser schauen oft zu ihm nur Weniges hinunter, als legten sie eine Handfläche auf seine Fläche oder tunkten drei Finger, wie die Weiden die Schütten, hinein. Doch holla! war im alten Kern noch was los! Gleich im Rücken der Gaußschule fing das an: Grölen und Lachen und WUMMWUMM aus den Kneipen, Schlager-Wummwumm, übrigens, kaum Techno oder House, aber das wird man in den Vorkiezen spielen, wo es noch Hallen und sowas gibt, nicht Butzengescheibe.
Überall fast Verwunschenheit. Dann mächtig, ich faßte es nicht: das Schloß von hannöverscher Dimension, aber, leider, nur halb aufgebaut (zu meiner Zeit stand es noch nicht, bzw. nicht mehr, ich erinner mich nicht mal an Ruinen); zur anderen Hälfte eine Mall wie man sie sich prachtloser gar nicht vorstellen kann, häßlich rin und übern Park jeklotzt, der einmal meiner, unser, gewesen, wo man sich traf als Jugendlicher im Rund und soff. Der Schrecken unserer Eltern hat sich hier architektonisch manifestiert, ist Ding geworden, Grauensding, das nach dem Sprengsatz ruft, irgend ein Koffer, stehengelassen…
Man ist dann aber schnell vorbei.
Die Burg Dankwarderode ist eingeweihnachtsmarktet. Das steht ihr, vor allem im völlig Finstern, Drahtgitterverhaue um das Häuschengevierte, damit nachts keiner einbricht. Ich fand einen Schlupf und stand vor meinem Antiquariat, das es, >>>> lieber Lampe, immer noch gibt. Da waren aber schon Suchscheinwerfer mir im Rücken, ich stand im gleißenden Kegel. „Haben Sie sich verlaufen?“ Zwei schwere Männer in USSR-Uniformen, die für Sibirien. „Aber nein!“ Ich lachte. „Vierzig Jahre lang war ich nicht mehr hier.“ Da ließen sie mich nicht nur schauen, nein, öffneten einen weiteren Schlupf, damit ich auch zum Löwen könne. „Lassen Sie sich Zeit, wir lassen die Sperre da hinten, sehen Sie?, einen Spalt offen, dann können Sie nachher hindurch.“
Wir plauderten etwas, ich fragte wegen des Schloßparks. Das Schloß ist eindrucksvoll, sehr, „aber“, sagte einer der beiden Wächter (ich hätte einem der zweie die Hellebarden gewünscht, dem andren eine Laterne, wie in der Oper sie Nachtwächter tragen, an Stange), „diese riesige furchtbare Anbau daran!“ Er klappte seinen sibirischen, dreifach gefütterten Kragen hoch. Ich grüßte durch Hochschaun den Löwen, nahm sogar meinen Hut dafür ab. Wie es sich gehört vor Majestäten, ob sie aus Stein sind oder nicht.
Die Innenstadt von Fachwerk durchzogen und, soweit in der Nacht zu sehen, geschmackvoll hergerichtet unterdessen, nicht aufdringlich, anders als die Retorte des Römers in Frankfurt. Die Querbalken schief, die Fenster manches Erdgeschosses in Höhe des Magens seiner Bewohner, wenn es die gibt; wenn nicht, dann seiner Eigentümer. Immer wieder Zeugnisse des Mittelalters, am Wollmarkt etwa, einzeln stehende, verschonte Gebäudegebilde. „Was eine Kanackerkneipe!“ schreit ein Deutscher, wohl Hitlers gewärtig, als er aus der Tür wankend stürmt. Hübsche junge Frauen schweifen umher, bei einer denk: die ‚geh ich hin‘, um zu küssen. Fraglos, einfach so. Sie mustern mich. Ich laß den Beischlaf Fantasie. Wiewohl: das wär nachzuholen. Ich hab ihn Braunschweig nie geliebt, also den Akt erlebt, ich war zu jung und zu schüchtern. Es gebe, bemerkte gestern Leukert im Restaurant, Rechnungen, die im Leben noch zu begleichen seien; so lange zögen sie mit und würden von Zeit zu Zeit gezückt. Das ist so eine… Svenja, ach (dann gab es noch – ob sie das liest? – Marie Luise Theuerkauf; Sabine hingegen, >>>> die Schwarzkopf, Volkschule Am Bültenweg, war ganz objektiv zu jung, wie damals ich, war sechs erst oder sieben).
Ich weiß, ich verkläre. Dennoch hat mich diese Stadt, bei allem Chaos, das in ihr mit mir tanzte, stärker geprägt als irgend eine später – bzw. zugleich, weil ich zwischendurch bei meinen Großeltern in Bremen lebte. Aber Bremen hat keine Seele, anders als Braunschweig, das fast nur aus Seele besteht, wenn man gut hinsieht und -fühlt. Und wenn man einen Hang zum Mittelalter hat, zu offenen Räumen, die klein sein mögen, doch in ihnen, wie der Venusberg ist, öffnen sich Räume, die anderen Dimensionen ähneln, in denen wirklich Zeit zu Raum wird: Man geht hinein, bleibt eine Stunde, und kommt man heraus, sind draußen sieben Jahre vergangen. So tief ist unseren Märchen Einstein eingeschrieben, eine Relativitätstheorie in der Sage.
Ich kehrte allmählich um, obwohl ich noch zum Wendentorwall wollte, wo ich mit fünf oder sechs gelebt, der Garten war riesig, war ein Hügel mit Abhang zur Oker. Weshalb hatten wir damals kein Boot? Ein Kanu, wenigstens. Doch der Fluß galt als verseucht, ich schrieb es gestern schon, es ging vor allem vor Coli die Warnung. Und die Blutegel hatte ich selbst schon am Bein. Vielleicht, daß Sie, abgesehen von Herrn Andrees pikantem Brotwerwerbszweig, deshalb im >>>> Wolpertinger solch eine Rolle spielen? Das dämmert mir jetzt erst. Das Mittelalter ist ewig.
Den Steinweg hinauf, schon ‚mein‘ Theater. Am Park wird gepinkelt, aber nicht in dem Pisshäuschen, das fassungsloserweise immer noch steht und sogar renoviert ist. Wenig weiter schon wieder die Brücke, wieder die Oker, Jasperallee, die Nr 85, wo im Souterrain meine Mutter ihre Praxis hatte, aus dem ich schließlich geworfen wurde mit der Alternative: Erziehungsheim oder dein Vater. Auch Sie hätten sie da für den Vater entschieden. Den ich auch gar nicht kannte. Andre Geschichte.
Jetzt meinen Schulweg, zur Gaußschule, man faßt es nicht: das Büdchen gibt es immer noch, indem ich meine ersten St.-Pauli-Nachrichten kaufte, mein Hang zu Pornos fing früh an, ein Verklemmten- und Schüchternheitshang, der Sublimationen befördert. War wir die Bildzeitung aufgemacht, billigstes Papier, aber strotzte vor nackten Prostituierten. War auch eine Bleiwüste, aber ich las das Zeug, glaube ich nicht, wollte nur billig an Bilder. Also die St.-Pauli-Nachichten und hin und wieder ein Comic, Fix & Foxi, weiß ich noch; ein Heftchen such ich noch heute. Es gibt Erinnerungen, die die Qualität von Gerüchen haben – Gerüche, die einen für immer prägten. Das wird man nicht los und will‘s auch gar nicht loswerden.
Hier aber, Kasernenstraße weiter, begriff ich, w a s an Braunschweig so einnehmend ist. Nämlich stehen die Häuser nicht aneinander, sondern fast jedes für sich, auch in vielen Straßenzeilen; es sind immer Häuser, nicht Komplexe. Deshalb stört es auch nicht, daß sie niedrig sind, zweidrei Stockwerke haben, dreivier noch, kaum mehr. Aber jedes steht für sich. Und manchmal steht ein Haus auf dem Hof hinter dem Haus, dahinter noch ein Haus, und alle Häuser nicht auf gleichen Ebenen, vor allem nicht in der Nähe der Oker. Das gibt der Stadt etwas Verschachteltes, ohne daß sie verschachtelt wäre; sie ist, vielmehr, dabei klar.
Moment, ich hol mir noch einen Kaffee –

Nein, schade, es ist schon fast halb neun. Ich kann nicht mehr weiterschreiben jetzt, sondern muß mich auf >>>> die Veranstaltung vorbereiten. Mehr also später, spätnachmittags, wahrscheinlich, wenn ich wieder im Zug sitzen werde. Wenn Sie in Braunschweig und Umgebung leben, seh ich Sie nachher sowieso. Ansonsten: genießen Sie anders Ihren Tag.

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