Weihnachtsjournal, 3. Montag, den. 26. Dezember 2011.

12.10 Uhr:
[Arbeitswohnung. Bach, Weihnachtsoratorium.]
Problematisch, nach wie vor, ist es, daß dieses Fest für mich gar kein christliches, sondern nach wie vor ein heidnisches ist: umfangen von der Sonnenwende, von der Hoffnung auf wieder-mehr-Licht wie von Hoffnungen insgesamt; problematisch, weil das durch den Nationalsozialismus so furchtbar desavouiert worden ist, unerträglich desavouiert: ganze Bereiche kollektiver Unbewußtheiten, die aber aus Erfahrung rühren, Menschheitserfahrungen, als unerlaubt durchgestrichen, weil als ins Unheil führend – eines nahezu eschatologischen Unheils – alles dies innerhalb von zwölf Jahren gegen Jahrhunderte. Inakzeptabel. Dagegen die christliche Umlügung der Sonnenwende in Christi Geburt als Maßnahme von Machtübernahmen, ja –ergreifung aus den primitivst-pragmatischen Gründen einer Besetzung durch Fremdgewalten. Hier ging es ja nicht um liebende Bekehrung, sondern um politische Übernahmewillen mit all den dann folgenden Zwängen, Folterungen, Vernichtungen; die gesamte christliche Kirchengeschichte ist eine Geschichte der Brutalität, mit der nun das Lichterfest – und auch der gute Name des Rebellen von Nazareth – belastet ist; und wiederum auch von einer Heilsgeschichte, die vor allem aus den Künsten strahlt, zu deren einem Höhepunkt auch dieses Oratorium zählt. Dennoch sind und bleiben die Feen mir lieber, auch die Unholde und, kybernetisch zu neuem Kleinschreckens„ruhm“ gelangt, die Trolls, sowie die losen Sexualbiester, die dafür sorgen, daß unsere Felder bestellt werden konnten und aber zugleich auch bestallt, also eingezäunt und verbrettert.

In den Sagen leben: in dem, was wir sagen, erzählen, hören – nicht in dem, was uns gesagt wird, daß es zu sein habe, und wie. Das Gefühl eines permanenten Verhängnisses, das zugleich Glück ist, momenthaft und jenseits bewußter Willen, geschweige denn autonomer Entscheidungen. Und der, siehe oben, Irreversibilität. Bin dabei, Gedichte zu entwerfen. Mir fallen aber immer nur erste, zweite, dritte Verse ein, dann hört‘s schon wieder auf, nein, hört nicht auf, sondern geht zum nächsten GedichtEinfall über, disziplinlos, unkonzentriert. Indem ich die Belastung merkte, die unverbrüchlich mit Liebe und Verantwortung verschmolzen ist, und eben auch mit diesem momenthaften Glück, oft nur in einem Blick, der flüchtig ist und sich selten nur mal ausruht, ruht, ruht und weiß: biblisch: einander erkennen, doch symbolisch, gleichsam, bleibend, berührungslos, und in alldem vibriert das Irreversible der verwundeten Erfahrung, die eine zudem ist, die um ihre Fortsetzung weiß, denn wir können alle nicht zurück – auch Bedürfnisse nicht, sofern sie nicht erkalten und sich vortodlich stillsetzen, sondern an dem Leben bleiben wollen, dem dieses Fest doch gilt – – indem ich das unausgesetzt fühle, habe ich begonnen, bis morgens neun Uhr zu schlafen. Phänomenal, welche Kraft sich hier erschlafen will und das gegen alle Routine auch durchsetzt.

Wie getanzt wurde! Wie wir nachmittags die FernsteuerFlieger fliegen ließen. Wie mein Junge zu zeichnen anfing nach dem neuen Zeichenbuch. Wie wir dann alle aßen zu abend. Brossmann war gekommen. Lange saßen wir. Wir, Brossmann und ich, radelten erst gegen 23 Uhr davon, jeder in seine Arbeitswohnung. Ich in der meinen schließlich ein bißchen verloren. Keine Lust zu lesen. Einen Film geguckt. So ward es zwei Uhr nachts und war eine Entscheidung, den Kasten runterzuzufahren und schlafen zu gehen.
Haltung. Haltung.
Manchmal muß man sich vorsagen, wer man unterdessen ist, geworden ist. Dann wird es etwas leichter. Schwer aber ist, nicht auf Verdrängungsprozesse hereinzufallen und erst recht nicht sich resignieren zu lassen. Sondern, und das ist die Hitze in mir, dieses Leben zu wollen, auch da nämlich, wo‘s wehtut. Und alles auszuschöpfen, jede Trauer, jede Begeisterung, jede Bindung. Anstelle sich zu distanzieren. Distanziert werden wir noch früh genug: nach dem Tod. Bis dahin aber fließe vieles Wasser durch die paradiesischen Flüsse, die h i e r und nicht etwa Jenseits weder entspringen noch münden. Was uns zuteil wird, wird uns im Leben zuteil. Blasphemie ist, zu entsagen.

21.03 Uhr:
Von der Familie zurückgekehrt. Ruhiger Tag, auch innerlich; zumal schenkt mir besonders das Zwillingsmädchen eine im Wortsinn umfassende Zärtlichkeit, als spürte es, wie die sinnliche Neutralität mir zu schaffen macht, der ich mich zu stellen habe, wie wenig auch immer sie mir entspricht. Euphemismen können, merke ich gerade, auch Rücksichtnahmen sein. Aus Liebe.

6 thoughts on “Weihnachtsjournal, 3. Montag, den. 26. Dezember 2011.

  1. Immer wieder faszinierend ist das, Sie, als S c h r i f t steller, solche Gedanken festhalten zu sehen. Gerade weil ja Schrift Verdrängung ist; auf ein Später nämlich, im Du, das man selbst im Jetzt noch nicht zu sein im stande ist.

    Und gerade als ich das schreibe, frage ich mich, warum man immer so Angst hat vor dem Cliché. Denn ihren Pathos, daran sehnt es mir, möchte ich teilen.

    1. @Benjamin zur Schrift. Ihre These ist schlüssig, die meine aber auch: daß Verschriftlichung das Gegenteil ist von Verdrängung, indem sie nämlich hebt und, vor allem, benennt. Dieses Benennen ist noch keine, jedenfalls sicher keine hinreichender Verarbeitung, aber ein Anschauen dessen, was die Verdrängung versteckt. Und das, dieses Anschauen, geschieht j e t z t. Es gibt da kein Später.
      Übrigens ist das ein Grund für die Ablehnung, die ich nicht nur aufgrund Der Dschungel so oft erfahre: daß ich die Sachverhalte benenne, die andere gern unter die Teppiche kehrten. Da ich schon organisch nichts Gesondertes bin, nichts, das sich von anderen sehr unterschiede (bereits zu Primaten sind die Gendifferenzen von Menschen geringst), spricht dieses Ausgesprochene gleichsam automatisch für andere stets mit, ob ich das will oder nicht. Und eben deshalb soll ich schweigen.

    2. Wenn Sie sprechen, dann kommt es darauf an.
      Daher sollten Sie nicht schweigen.

      (manchmal ist die kleinschreibung wirklich deplaziert. verzeihung!)

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