Zum Manierismus. Das über Döblins Wallenstein nachdenkende Argo- und Galouye-Journal des Freitags, dem 27. April 2012.

8.26 Uhr:
[Arbeitswohnung. Tschaikowski, Fünfte Sinfonie (eine
meiner ersten LPs überhaupt, wenigstens einundvierzig Jahre alt).]



Tatsächlich klingt sie noch immer, hat nicht mal einen Kratzer; dabei habe ich sie mit fünfzehn nahezu täglich zweidreimal gehört, über- zimmerlautstärkenlaut, auf Kosten der Nerven meiner gleich nebenan über die Füße ihrer Patienten gebeugten Mutter.
Seit halb fünf auf, zehn vor fünf am Schreibtisch gesessen, bis Typoskriptseite 471oben gekommen.

Die Frühmorgenarbeit hat wirklich was; wenn andere erst aufstehen, hat man das Gefühl, bereits viel geschafft zu haben, und dieses Gefühl beschreibt, überdies, die Wirklichkeit.
Jetzt mußte ich Argo aber, nachdem ich die ausgesprochen schlafschwere Löwin geweckt hatte, beiseitlegen für heute. Es geht auf Galouye zu. Um neun will ich ans Cello, vielleicht wird‘s halb zehn, dann gleich aufs Rad, um in Max Plancks Science Galery meine O-Töne aufzunehmen; um zwölf Uhr kommt, für eine weitere, die Aufnahme einer Szene, Barrientos dort hin. Vor zwei werde ich nicht zurück sein und dann erst meinen Mittagsschlaf nehmen, der aber nötig ist, weil ich nachts erst um viertel vor eins ins Bett kam. Ab drei/halb vier erwarte ich dann Broßmann, hier in der Arbeitswohnung, weil wir seinen Sprechpart durchgehen wollen. Weitere Sprechprobe mit meinem Jungen später am Nachmittag. Schon mal die tagsüber mitgeschnittenen Töne in die Datei überspielen. Usw. Abends dann Lektürewechsel: Tobias Sommer, Dritte Haut. Ich hatte >>>> schon mal etwas drüber geschrieben, mußte das Buch aber beiseitelegen, und dann war Döblins Lockung so sehr groß.

Walter Muschg, der zum Wallenstein das Nachwort geschrieben hat, moniert, bei aller sonstigen Begeisterung, einen bisweiligen Manierismus. Ich kenne diesen Vorwurf an eigenen Leib und habe ihn eigentlich nie kapiert. Alles, tatsächlich alles, was große Kunst wurde, nämlich Ausdrucksringen ist, ist manieriert; das gilt sogar für Goethe, von dessen „klassisch“harmonischer Weltvorstellung her die Ablehnung rühren dürfte – und von der Idee eines tatsächlich wirkenden Sinnes in der Geschichte. Wer Manierismus rügt, ist monotheistisch religiös, nämlich teleologisch gesonnen, wie säkular auch immer. Es gibt aber keinen Sinn in der Geschichte – wie es Muschg bei Döblin auch richtig sieht und beschreibt -, weder ein Geschichtsziel der Erlösung, noch gar einen „historischen Determinismus“, auch keine Logik der Entwicklung, die anders strukturiert wäre als nach banalstem Ursache-Wirkungsschema. Insoweit behält Darwins Survival of the Fittest nach wie vor recht; woraus folgt, daß es keine Moral gibt, nur vorübergehende Zustände von Moral und Gewaltverhältnisse, in jedem Fall, die sie durchsetzen, gute und schlechte Gewalt, wobei die einen für Gut und Böse anderes halten als die anderen, jeweils wieder aufgrund ihrer jeweiligen Vorbedingungen. So endet Döblins Roman denn auch, nachdem alle tragenden Figuren umgekommen sind. Es geht einfach immer so weiter:

UNTER die aufmarschierenden Heere der Kaiserlichen Sachsen Schweden Bayern gerieten von allen Seiten die losgelösten, verzweifelten Volksteile. Viele gingen zu den Truppen über, von Lohn und Nahrung verlockt. Was ihnen störend in den Weg kam, zerklatschten die Heere.
Die Söldnermassen selbst brachen gegeneinander los, schlugen sich nieder, verfolten sich, metzelten sich von neuem, Kaiserliche Sachsen Schweden Bayern. Im Westen hatten sich die Welschen gesammelt. Sie warteten in frischer Kraft auf ihr Signal, um sich hineinzuwerfen.
Ende des Romans.

Keine ErfüllungErlösung-insgesamt. Zwischendrin einzelnes Glück. Das ist es. Und kann ebenso viel sein wie Leid und Elend und die Monstrositäten, von denen dieser Wallenstein erzählt; sie sind, alle, seit dem Dreißigjährigen Krieg nicht geringer geworden. Und weiterhin nah.

Was wir einzusetzen haben? Weniges. Unsere Haltungen. Unsere Arbeit. Aber das ist viel. Der Roman wird mich weiterbeschäftigen. Gestern nacht tippte ich Ihnen noch >>>> ein kleines Lehrstück zum Macchiavell daraus ab.

13.11 Uhr:
Bereits zurück, viele Töne im Gerät; die werde ich nach dem Mittagsschlaf durchhören und übertragen.
Die letzte Kagel-CD kam endlich, die ich für die FAZ besprechen soll und möchte.
Schlafen jetzt.

19.25 Uhr:
Dort zum heutigen >>>> ersten Aufnahmetag. Es ist ziemlich klar, daß der gesamte Aufwand, den ich für des WDRs >>>> Open:WortLaut betreibe, mit Profisprechern nicht finanzierbar wäre. Das geht nur unter „Off“-Theater-Bedingungen. Um so arbeiten zu können, muß man mit Sprech„fehlern“ umzugehen, sie ins Stück dramaturgisch verstärkend hineinzuziehen verstehen.

Ich brauch Wein, bin mal kurz weg.

14 thoughts on “Zum Manierismus. Das über Döblins Wallenstein nachdenkende Argo- und Galouye-Journal des Freitags, dem 27. April 2012.

    1. Tu ich doch. Ständig. Aber das Bewußtsein über Probleme gehört unabdingbar dazu. Es geht nicht um Instinkt und, meinethalben Talent; die sind Voraussetzungen, notwendig, aber nicht hinreichend.

  1. “Alles, tatsächlich alles, was große Kunst wurde, nämlich Ausdrucksringen ist, ist manieriert.”

    Das ist falsch.
    Es gibt natürlich große Künstler, die den Weg übers Manirierte gefunden haben, so z.B. Goethe.
    Als einer der wenigen (neben A.S.), der offen zugibt, dass er Goethe allenfalls wegen seiner Lyrik und der Briefe wegen schätzt (die Romane = hassenswert), stehe ich einer anderen Glaubensrichtung bei.
    Also der: Der “Direkte Weg des Genies” ist sicherlich nur wenigen vorbehalten, läuft aber dann über DIREKTE AUSDRUCKSKRAFT (zu finden bei Büchner, Proust, Schiller, Dürrenmatt, auch Vian)
    Der Rest – wie auch sie – sind einfach geschickte Entdecker und Wiederverwerter (wie eben Goethe auch) Was man aber auch können muss.
    Also. So what!

    1. @leser zum Manierierten und anderem Künstlertum. Also Dürrenmatt ist mir zu holzig, und Büchner, grandios im Danton und Wozzeck, schrieb ab, nämlich Realität und an ihr Kritik. Das hat, möchte jetzt wieder ich Ihnen entgegnen, sein Recht, ist mir aber zu wenig; Schiller ist entsetzlich verklemmt; bei Vian bin ich mit Ihnen einverstanden; was Proust anbelangt, so ist auch er Manierist – ganz wie Nabokov. Ihrer Neigungsreihe will ich Kleist entgegenstellen.
      Was das Wiederentdecken anbelangt, ist die Entdeckung und Wiederverwendung doch sehr viel größer bei etwa Büchner als bei Goethe, der aus einem einzigen Grashalm einen utopischen Horizont aufsteigen und leuchten läßt (Harzreise im Winter, ab “aber abseits, was ‘ist’s”).
      Was den von Ihnen angespielten Arno Schmidt angeht, ist unbedingt auch Edgar Poe auf der Seite der Manieristen mitzuverbuchen. Und schließlich – ich nehme an, in ‘wie auch sie’ sollte das ‘sie’ großgeschrieben sein -: ich selbst verwende auch wieder, aber bei weitem nicht nur. Es gibt auch zum Beispiel Formen und Konstruktionen in meinen Büchern, die es vorher noch niemals gab, jedenfalls nicht meines Wissens.

    2. @leser Nach dem allgemeinen Verständnis von Manierismus war Goethe kein Manierist. Aber vielleicht haben Sie die Zentrifuge der Begriffsbildung außer Kraft gesetzt und einen Reigen überraschender Bestimmungen gefunden.
      Mit Hegel war sich Goethe über die Herkunft manierierter Kunst einig: „Aus einem selbst kommt nur die Dummheit und er Eigendünkel“. Den extravertiertesten aller Dichter dem Manierismus zuzuschlagen ist blind.
      Goethes Kunstsammlung war auch eine umfangreiche Sammlung manieristischer Kunst (namentlich der manieristischen Skulptur). Möglicherweise halten ihn manche deshalb schon für einen Manieristen.

    3. @tom zweierlei, als Fragen. Der Manierismus sei etwas, das “nur aus sich selbst”, also seinem Künstler, komme? Das halte ich, wie Hegel oft insgesamt, für irrig. Denn was soll sein dieses “aus sich selbst”, zumal “nur”? “Lauschst du nach innen, hörst du das Draußen”, heißt es bei Ernst Bloch. Das, zum einen, glaube ich auch. Zum anderen ist ein “nur aus sich selbst” prinzipiell nicht möglich, schon gar nicht in der Kunst, die immer auch auf das reagiert, was ihrem Urheber widerfährt, ob er nun “realistisch” oder manieristisch gesonnen sei. Die Frage ist also eine der gewählten Formen von Verarbeitung.
      Zum zweiten: Tatsächlich Goethe als “extrovertiertester” aller Dichter? Was sagen Sie zu Hemingway, John Steinbeck, überhaupt den großen US-Amerikanern, was zu García Márquez, zu Cortázár, was, je nun, zu Döblin? Schon Robert Louis Stevenson ließ mehr – gefährdende – Welt an sich heran als Goethe jemals; Jack London wäre ebenso zu nennen. Und und und. Bei kategorischen Superlativen wie dem Ihren bin ich skeptisch. Und übrigens: Was ist mit Casanova?

    4. @albannikolaiherbst zur Welt an und für sich. Ich antworte später, denn meine hier am Arbeitsplatz deponierte Lesebrille ist verschwunden. Am Abend oder morgen dann den Kommentar.
      Zu Goethens Neigung nach außen selbst in der Lyrik nur so viel: “Gedichte sind bemalte Fensterscheiben”.

    5. Wahllos, aber nicht langweilig Der Blochsatz ist schon ganz hegelsch: Subjekt-Objekt!

      Natürlich meinte Hegel nicht und auch nicht Goethe ein „nur aus sich selbst“. Es war nach der Gewichtung gefragt, darnach, wie dick der Künstler sich selbst ins Sein eingeschrieben habe. Macht sich das Selbst zu breit, kommt die Manier in ihren bekannten Formen dabei heraus. Kein Künstler hat (weder am Anfang noch am Ende) die Wahl. Wahllos ergreift er mit den Möglichkeiten, welche ihm, und nur ihm zu Gebote stehen, die Haltestellen des Seins. Möge die Kritik (und auch der Künstler) dann die Ergebnisse nach bewährtem Analogieschluss ordnen und fürderhin von den Formen der Verarbeitung sprechen.

      Sie haben dann Schriftsteller und Dichter genannt, die -wie Sie gut formulieren- „gefährdende Welt mehr als Goethe“ an sich heran gelassen hätten. Das glaube ich nicht. Ganz abgesehen von den bekannten, mitunter gefahrvollen Unternehmungen Goethens haben in gesellschaftlicher Hinsicht so unerfahrene Männer wie Arno Schmitt, Pavese oder gar Kafka (wenn man sich anstrengte, könnte man hundert Namen nennen), haben diese, und g e r a d e diese mit ihren Werken auf den Abgrundd einer Ontologie der Verzweiflung gezeigt (es ist überhaupt komisch, daß andererseits in der grauen Zeit des Frühkapitalismus ewas so lebendiges wie der Impressionismus aufkommen konnte).
      Der Vergleich dieser neueren mit einem aus der Weimarer Klassik ist natürlich schwer.

    6. @tom, “gezeigt”. Genau das habe ich nicht gemeint. Mich interessiert nahezu immer konkretes Leben, materiales. Der Geist kommt danach. Ich bin zu sehr Heide, um das anders zu halten oder halten auch nur zu wollen. Der Körper geht dem Geist voran. ja dieser wäre (und, de facto, ist) ohne jenen nichts.

    7. Und immer ein Zeigen. Weil ich ein Körper bin u n d einen Körper (Leib) habe, d. h. von ihm weiß, wird schon mit einem Lächeln auf etwas gezeigt.

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